Motorführer Johann Prügl als Dienstmädchenmörder (1905)

Lesen Sie heute Teil 5 unserer neunteiligen Serie „History & Crime in Rudolfsheim (Fünfhaus) Anno dazumal“ von Barbara Büchner.

Barbara Büchner hat in Archiven recherchiert, dutzende Zeitungsartikel durchforstet und spektakuläre Fälle zusammengetragen, die sich auf dem Gebiet des heutigen 15. Bezirks zugetragen haben oder von Personen handeln, die im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus wohnhaft oder beruflich (oder sonst wie) tätig waren.

Verfolgen Sie heute mit uns die Ermordung der Dienstmagd Bertha Böhm durch den Heiratsschwindler Johann Prügl.

Als Quelle dient u.a. die „Arbeiterzeitung“ vom 23. März 1906.

History & Crime
Handschellen

“Mörder aus bitterer, unverschuldeter Not“ – der Tramway-Führer Johann Prügl

Prügl_1
Illustrierte Kronen-Zeitung vom 22.3.1906

Die Ermordung der Bertha Böhm durch den Heiratsschwindler Johann Prügl ist keiner jener Fälle, die durch eine besondere Raffinesse des Täters oder große Schwierigkeiten bei der kriminalpolizeilichen Untersuchung hervorstechen. Historisch gesehen wichtiger als die Tat selbst ist hier die Szenerie, in der sie sich abspielte.

Denn die Tragödie der Dienstmagd, die das große Glück suchte, ist auch gleichzeitig die Tragödie des Täters, der trotz regelmäßiger Arbeit – er war Motorführer bei der Wiener Tramway – samt seiner Familie dem Hungertod nahe war.

Transkript (Barbara Büchner) aus der Arbeiter-Zeitung, Nr. 81.  vom 23. März 1906, Seite 8 (Auszug):

Gerichtssaal.

Die Leiche im Schönbrunner Vorpark.

Gestern begann die auf drei Tage anberaumte Verhandlung gegen das Ehepaar Johann und Barbara Prügl. Johann Prügl ist angeklagt, am 27. August 1905 in seiner Wohnung die Dienstmagd Bertha Böhm ermordet zu haben; seine Frau, an diesem Mord entfernt mitschuldig zu sein, und Johann Prügl überdies, an zwei anderen Mädchen Heiratsschwindel verübt zu haben. Zwei Erscheinungen machen diesen Prozess interessant. Vor allem solche, die die Tat betreffen. Sie ist im Kabinett des Täters verübt worden, trotzdem anstoßend an diesen Raum andere Mieter wohnten. Der Leichnam konnte in dem kleinen, von vier Menschen bewohnten Loch länger als einen Tag liegen und am hellen Tage im Schönbrunner Vorpark abgeladen werden.

Transkript Ende

Prügl 2
Auffindung der ermordeten Bertha Böhm in einem Gebüsch des Schönbrunner Vorparks, Illustrierte Kronen-Zeitung, 30. August 1905

Transkript (Barbara Büchner) aus der Arbeiter-Zeitung, Nr. 81. vom 23. März 1906, Seite 8 (Auszug):

 (…) Aber auch der Täter erfordert die Aufmerksamkeit. Er hat das grauenhafte Verbrechen aus bitterster unverschuldeter Not begangen, trotzdem er Motorführer der städtischen Straßenbahnen war, also einer jener Bediensteten, die schon so lange die Sonne der Christlichsozialen erwärmt. So wirft der Prozess ein grelles Streiflicht auf die Lage der Tramwaybediensteten.

(…)

Prügl verdiente als Motorführer in der Woche bloß vierzehn bis achtzehn Kronen, die Frau konnte, da sie bei den Kindern bleiben musste und überdies herzleidend ist, nichts verdienen.

 Transkript Ende.

Die „Österreichische Krone“ war die Goldwährung Österreich-Ungarns bis 1918 und die Währung der Republik Österreich von 1918 bis 1925. Sie löste im Zuge der Währungsumstellung von 1892 den Gulden ab. In der Umgangssprache bezeichnete man die Goldmünzen zu 10, 20 und 100 Kronen als „Goldkronen“. Im Jahre 1892 betrug die Kaufkraft einer Krone noch etwa umgerechnet 10 Euro, in den Jahren 1908-1912 waren es nur mehr 5 Euro. Der Wochenlohn des Motorführers Prügl betrug also im günstigsten Fall 140 bis 180 Euro, im schlechtesten Fall die Hälfte.

Prügl_3
In solchen dunklen, engen und ungesunden Häusern wie hier im Bezirksteil Braunhirschen lebten arme WienerInnen wie die Familie Prügl (Foto BM 15)

Die Familie Prügl waren keine AußenseiterInnen. Sie gehörten zur überwältigenden Mehrheit. Und wie der Redakteur der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ ganz richtig bemerkt, wirft die Verhandlung ein grelles Streiflicht auf das Elend, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Großteil der Wiener Bevölkerung lebte: Hungerlöhne, enge, dunkle und von Schmutz starrende Arme-Leute-Wohnungen, in denen die Tuberkulose – nicht umsonst „Wiener Krankheit“ genannt – und die ebenso zerstörerische Rachitis brütete, das Fehlen jeglichen sozialen Schutzes für die Armen, die Überforderten, die Verzweifelten.

Sie mussten selbst zusehen, wie sie zurechtkamen – oder eben auch nicht. Neunzig Prozent der Wiener Bevölkerung um die Jahrhundertwende bestand aus „armen Leuten“: Dienstboten, Kleingewerbetreibende, ArbeiterInnen. Viele wohnten in Zimmer-Küche- oder Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen in sogenannten „Zinskasernen“.

Es waren Behausungen ohne jeglichen Komfort. 95% dieser rund 400.000 Wohnungen hatten nur ein WC (oft ein Gemeinschafts-WC für mehrere Wohnungen) am Gang; dort befand sich auch die „Bassena“, von der die Parteien das (natürlich kalte) Wasser holten. Hausherren wurden von ihren erbitterten MieterInnen als „Zinsgeier“ bezeichnet, betrugen die Mieten doch für ein Kabinett zwischen 15 und 20 Kronen im Monat.

Das Geld versuchten viele Familien aufzubringen, indem sie eine Schlafgelegenheit an UntermieterInnen und BettgeherInnen vermieteten. Um 1900, also etwa zum Zeitpunkt des Mordes, gab es geschätzte 80.000 solche BettgeherInnen, die für die stundenweise Benützung einer Schlafstatt (oft nicht einmal eines Bettes, sondern einer Matratze auf dem Boden!) bezahlten.

In den engen, feuchten und kalten Räumen schliefen oft an die 15 Personen, Männer, Frauen und Kinder in einem Raum, oftmals mehrere Personen in einem Bett: Verwandte und Fremde, Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, oft solche mit ansteckenden Krankheiten.

vgl. 100 Jahre leben und wohnen in Wien

Die Tuberkulose (Tbc, „Weiße Pest“, Morbus Koch, Wiener Krankheit, Schwindsucht) ist eine hochansteckende bakterielle Infektionskrankheit. Sie kann alle Teile des Körpers befallen, die häufigste und bekannteste Variante ist allerdings die Lungentuberkulose.

Eine zweite gefürchtete Arme-Leute-Krankheit war die ebenfalls weit verbreitete Rachitis, die vom Mangel an Sonnenlicht (Vitamin D) verursacht wird und zu grauenhaften Verkrümmungen des gesamten Skeletts führt.

Prügl_4
Am schlimmsten betroffen waren die Kinder in den Elendswohnungen (Bild: Mediathek Unterrichtsmaterialien)

In der Neuzeit erreichte die Tuberkulose im ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Allein in Österreich rechnet man im 19. Jahrhundert mit etwa 1,2 Millionen Tbc-Toten.

vgl. Österreichische Mediathek

Das änderte sich erst, als das „Rote Wien“ seine Reformen umsetzte. Halb spöttisch, halb bewundernd nannte Wien seine ersten Gemeindewohnungen „Volkswohnpaläste“. Deren Wohnungen waren um die 40 m groß, bestanden aus einer (Wohn)Küche, einem Zimmer, Vorraum und eigenem WC, hatten fließendes Wasser, Gas und Strom und teilweise sogar schon Zentralheizung.

Für die ArbeiterInnen war das damals das Paradies. Enge, feuchte und lichtlose Zimmer, diese Brutstätten der typischen Elendskrankheiten Tuberkulose und Rachitis, gehörten der Vergangenheit an. „Licht, Luft und Sonne“: Unter diesem Motto ließ die Stadt die Wohnanlagen errichten. Auch Kindergärten, Wäschereien oder Turnsäle waren Teil der Gemeindebaustruktur.

Quelle (bearbeitet Barbara Büchner): Begleittext zur Ausstellung Sonderschau „Die Ringstraße des Proletariats“, die im Jahre 2015 im Museum Das Rote Wien im Karl-Marx-Hof zu sehen war. („Die Presse“, Print-Ausgabe, 28.06.2015), Auszüge, gekürzt

Der Täter und seine Gehilfin

Prügl_5
Illustrierte Kronen-Zeitung, 30.8.1905

Die Beteiligten

Johann Prügl wurde im Jahre 1877 (andere Angabe: 1875, Anm.d.V.) in Wien als der Älteste von sechs Geschwistern geboren. Schon sein Vater war Kutscher gewesen; er wählte nach einem kurzen Versuch als Fleischhauergehilfe denselben Beruf, erst als Lastfuhrmann, dann als Motorführer auf der ersten „Elektrischen“ Wiens.

Motorführer – ein hoch angesehener Beruf, war die „Elektrische“ doch der Gipfel neuzeitlicher Technik!

Nichts wies darauf hin, dass er als Verbrecher enden würde. Als Kind galt er als brav und fleißig, in der Schule, beim Militär und später an seinen Arbeitsstellen gab es keine Klagen über ihn.

Nichts wies darauf hin, dass er als Verbrecher enden würde. Als Kind galt er als brav und fleißig, in der Schule, beim Militär und später an seinen Arbeitsstellen gab es keine Klagen über ihn. Seine ehrbare Familie musste zutiefst erschüttert zur Kenntnis nehmen, dass er zum Mörder geworden war.

Einen Hinweis allerdings gibt es, wie Johann Prügl möglicherweise dazu kam, diesen Mord nicht nur zu begehen, sondern sich dabei so außergewöhnlich stupide und tollpatschig anzustellen, dass man aus dem Kopfschütteln nicht herauskommt.

In seinem 13. Lebensjahr hatte er bei einem Sturz eine schwere Kopfverletzung erlitten, die häufige quälende Kopfschmerzen und viele Jahre lang ein heftiges Stottern zur Folge hatte. Schon sein Vater war „an den Spätfolgen einer Gehirnerschütterung“ gestorben,

Prügl selbst prophezeite häufig, er werde ebenso an einem Gehirnleiden sterben wie sein Vater. Moderne Neurologinnen würden wahrscheinlich ihre eigene Diagnose zu dieser „erblichen Gehirnerschütterung“ stellen.

Barbara Prügl (Mädchenname unbekannt) wurde 1875 in einem Dorf in Oberösterreich geboren und war nach Wien gekommen, wo sie als Dienstmagd arbeitete und offensichtlich gut angesehen war, da sie auf demselben Posten ohne Unterbrechung sechs Jahre tätig war.

Im April 1902 heirateten die beiden und bezogen eine Wohnung in der Anschützgasse 4, ein bloßes Kabinett mit Küchenbenützung (das Zimmer war an eine Frau Marie Kanda und deren „Bettgeher“ vermietet!), für die sie 12 Kronen und 80 Heller Monatszins zahlten.

Dennoch sah es fürs erste nicht schlecht aus für das junge Paar. Beide waren fleißig und sparsam, und Barbara hatte 180 Kronen Mitgift in die Ehe eingebracht. Doch dann begannen die Schwierigkeiten, und damals gab es kaum eine öffentliche Institution, die Krisenintervention geübt hätte. Krankheiten häuften sich in der Familie.

Das erste Kind starb nach wenigen Lebensmonaten, zwei später zur Welt gekommene blieben am Leben, waren jedoch häufig krank. Dann erkrankte Barbara an einem Herzleiden, das es ihr unmöglich machte, arbeiten zu gehen; es fiel ihr schwer genug, die Kinder zu versorgen.

Und als die beiden Eheleute nicht mehr weiterwussten, weil ihnen nach Abzug der Miete oft gerade noch eine Krone „Wirtschaftsgeld“ in der Woche blieb, begann ihr Abstieg ins Verbrechen – erst noch mit kleinen Gaunereien, dann mit kriminellen Vergehen … bis hin zum Mord.

Die „Arbeiter-Zeitung“ berichtet:

Transkript (BB) aus der Arbeiter-Zeitung, Nr. 81. vom 23. März 1906:

So litt die Familie Not. Erst suchte das Paar ihr abzuhelfen, indem es bei Ratenhändlern Waren kaufte und sofort verpfändete oder verkaufte. Dadurch kamen die Prügl immer tiefer hinein, denn die Raten, die sie zu zahlen hatten, verschlangen einen immer größeren Teil des Lohnes, sodass manchmal nur eine Krone für Woche übriggeblieben ist.

Um die Not, die noch durch Krankheiten in der Familie gesteigert worden ist, zu bannen, verlegte sich Prügl im Einverständnis mit seinem Weib auf den Heiratsschwindel. (…) Viel Glück hatte aber Prügl in diesem Beruf nicht. Das erste Mädchen, das er sich im Dezember 1903 als Opfer erkoren hatte, ging ihm nicht auf den Leim.

Das zweite, das er im März 1905 anlockte, kam, da er die Sache zu ungeschickt inszeniert hatte, mit einem Schaden von 40 Kronen davon.

Das letzte Opfer Prügls war die unglückliche Bertha Böhm, die unter seinen Händen ihr Leben aushauchte.

Transkript Ende

Bertha Böhm, geboren 1875 in Schlesien als Tochter eines Kleinhäuslers, war in Wien als Hauswirtschafterin im Alsergrund tätig. Und wie so viele ihres Standes hatte sie den dringenden Wunsch, zu heiraten, um ihrem beruflichen Umfeld zu entfliehen – denn ein schönes Leben hatte ein Dienstmädchen damals nur in den seltensten Fällen.

Prügl_6
Romantisierende Darstellung eines Dienstmädchens in einem großbürgerlichen Haushalt (Bild WIKIPEDIA gemeinfrei)

Zum einen gab es keine geregelten Arbeitszeiten. Sie mussten, wenn nötig, ihren Dienstherren rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Das Dienstmädchen stand im ersten Morgengrauen auf, heizte erst einmal die Öfen, machte Wasser zum Waschen und fürs Frühstück warm (fließendes Wasser gehörte um die Jahrhundertwende nicht zum Standard, also musste das Dienstmädchen auch Wasser schleppen), servierte die Mahlzeiten, räumte wieder ab, spülte und putzte.

Der Tag konnte lang werden, besonders wenn Gäste am Abend eingeladen waren oder die Herrschaften abends noch in Gesellschaft gingen und danach spätnachts noch einmal bedient werden wollten. Erst wenn alle Arbeit erledigt war, durfte das Dienstmädchen schlafen gehen.

In manchen ehemals großbürgerlichen Wohnungen in Wien sieht man noch das „Dienerzimmer“ neben der Küche, in das neben dem schmalen Bett gerade noch ein Stuhl und der Koffer hineinpassten. Und diejenigen, die ein eigenes Bett hatten und es nicht mit einer oder mehreren Kolleginnen teilen mussten, gehörten zu den Privilegierten.

Die Freizeit war äußerst kärglich bemessen: Alle 14 Tage durften die Mädchen sonntags für zwei Stunden das Haus verlassen. Als Lohn gab es Kost und Logis und nur ein kleines Entgelt, das oft nicht einmal an die Mädchen selbst, sondern an deren Eltern gezahlt wurde.

Wen wundert es, wenn die Dienstbotinnen keinen anderen Gedanken im Kopf hatten, als sich einen gut situierten Mann zu angeln? Lust und Liebe spielten da kaum eine Rolle. Die jungen Frauen wollten nur weg aus den harten und demütigenden Arbeitsverhältnissen und endlich selber Hausfrau und Herrin eines eigenen Haushalts sein.

Freilich, oft kamen sie vom Regen in die Traufe. Die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung beschließt ihren Bericht mit dem giftigen Kommentar: „Dieser Mordtat leistete das „Neue Wiener Tagblatt“ Vorschub, das sich an den Heiratsannoncen der dummen sitzengebliebenen Mädchen bereichert, die um jeden Preis einen Mann wollen und durch ihre Annoncen nur den Schwindlern ins Garn laufen.“

Berta Böhm, Hauswirtschafterin bei einem Privatbeamten namens Emil Steiner in der Grünen Tor-Gasse 17 am Alsergrund, war allgemein beliebt, sie wurde von allen ZeugeInnen im Prozess gegen Prügl als fleißiges, anstelliges und überaus „solides“ Mädchen geschildert.

Ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt standen dennoch schlecht: Nach ihrem Dienstbotenbuch war sie 32 Jahre alt und nach damaligen Begriffen bereits eine alte Jungfer.

Eine Zeugin im Prozess berichtete, Bertha habe zu ihr gesagt: „Was wollen Sie, ich bin nicht mehr so jung, und wenn man einmal jemanden findet, der einen heiraten will, darf man nicht wählerisch sein.“

Also schlug sie alle Warnungen von Eltern, Freunden und Nachbarn in den Wind … und lief ins Verderben.

Sie gab eine Heiratsannonce auf und war naiv genug, gleich dazuzuschreiben, dass sie 1600 Kronen Mitgift in die Ehe mitbringen wollte. (Anm.d.V.: Der Geldbetrag ist einmal mit 1600 Kronen, ein andermal mit 600 Kronen – was um vieles wahrscheinlicher ist – angegeben).

Mittlerweile hatte Johann Prügl sich zwei Mal erfolgslos als Heiratsschwindler versucht; ein Mädchen durchschaute ihn, einer zweiten konnte er magere 40 Kronen abschwindeln. Da erschien ihm Bertha als wahre Goldgrube. Mit Wissen und Einverständnis seiner Frau fasste er den Plan, das Mädchen in seine Wohnung zu locken, auszurauben und auch gleich zu ermorden.

Am 27. August 1905 setzte er den grausamen Plan in die Tat um. Barbara Prügl verließ mit den beiden Kindern das Haus, und während sie einen zweistündigen Spaziergang machte, würgte ihr Gatte die junge Frau bewusstlos, erschlug sie, als sie immer noch röchelte, mit einer Hacke – und stellte fest, dass er umsonst gemordet hatte: Statt der 600 Kronen, die sie hätte mitbringen sollen, hatte Bertha gerade einmal 34 Kronen bei sich.

Länger als einen Tag, so berichtet die Arbeiter-Zeitung, lag der Leichnam in der Wohnung Prügls – in einem Kabinett, in dem das Ehepaar mit zwei Kindern wohnte, während nur durch eine dünne Wand getrennt die „Hauptmieterin“ Frau Kanda mit ihrem Untermieter Quartier hatte!

In dieser Nacht schlief die gesamte Familie auf dem nackten Fußboden – denn unter den Strohsäcken des Bettes lag die Leiche verborgen, wie Prügl bei seinem Prozess eingestand.

Am nächsten Tag zwängte der Mörder den Leichnam in einen Holzkoffer und karrte ihn auf einem Handwagen in den Schönbrunner Vorpark, wo er ihn in ein Gebüsch warf. Dort blieb die Tote nicht lange unentdeckt: Ein Schuljunge namens Karl Bäumler entdeckte beim Spielen den halb bekleideten Körper mit der massiven Wunde am Kopf.

Jetzt meldete sich die Bewohnerin des Zimmers, Frau Marie Kanda, die am Mordtag doch das eine oder andere verdächtige Geräusch gehört hatte, und das Ehepaar Prügl wurde verhaftet. Johann Prügl holten die Polizisten an der Haltestelle Mariahilferstraße – Dadlergasse vom Führerstand seiner Tramway.

Prügl_7
Die Verhaftung des Mörders. Illustrierte Kronen-Zeitung 30.8.1905
Prügl_8
An der Haltestelle Mariahilferstraße – Dadlergasse wurde der Motorführer Johann Prügl vom Führerstand seines Wagens weg verhaftet.
prc3bcgl_9.png
So sah der Straßenbahnwagen aus, auf dessen Führerstand Johann Prügl verhaftet wurde (Wiener Tramway-Museum).

Ein halbes Jahr später fand der Prozess statt, über den die Arbeiter-Zeitung berichtet:

Transkript (BB) aus der Arbeiter-Zeitung, Nr. 81. 23. März 1906,

Die Verhandlung.

Johann Prügl ist nun wegen meuchlerischen Raubmordes und Betruges, Barbara Prügl wegen entfernter Mitschuld an dem Raubmord angeklagt. (…) Natürlich war der Andrang zum Schwurgerichtssaal enorm. Justizsoldaten, Polizisten zu Fuß und zu Ross mussten die ausrücken, um die blutdürstigen Männer und hauptsächlich Weiber, die bei keinem Mordprozess fehlen dürfen, zurückzudrängen.

Das Verhör mit Barbara Prügl.

Die kleine, unscheinbare Person mit dem vergrämten Gesicht, deren schütteres Haar viele Stellen auf dem Kopfe kahl lässt, spricht so leise, dass sie kaum die Richter und die Geschworenen verstehen. Auf die meisten Fragen gibt sie überhaupt keine Antwort und das Verhör wickelt sich hauptsächlich in der Weise ab, dass ihr der Vorsitzende die Tatsachen aus den Akten vorhält und sodann bekannt gibt, was sie vor der Polizei dem Untersuchungsrichter gesagt hat.

Barbara Prügl gibt an, dass sie und ihr Mann gehofft haben, nach der Hochzeit eine Hausbesorgerstelle zu bekommen. Sie haben sich darin getäuscht. Von den 14 bis 18 Kronen Wochenverdienst habe der Mann 12 bis 14 Kronen der Familie gelassen. Krankheiten in der Familie haben es unmöglich gemacht, das Auslangen zu finden. Anfangs 1905 sei sie mit einem Kinde überfahren worden und mehrere Wochen im Spital gewesen.

Als sie in Not waren, haben ihr Mann gesagt, er werde aus einem Heiratsschwindel sehr viel Geld bekommen. (…) Sie habe aber nicht gewusst, dass er sie (die Bertha Böhm) umbringen wolle.

Transkript Ende

Freilich stellt sich rasch heraus, dass Barbara Prügl sehr wohl gewusst hat, was ihr Mann plante. Sie hat einen Kloß im Hals, als das Opfer gut gelaunt zu dem erhofften Schäferstündchen erscheint und „sich noch mit einem unserer Kinder gespielt hat.“ Aber sie geht trotzdem, und als sie zurückkommt, ist die Tat getan.

Transkript (BB) aus der Arbeiter-Zeitung, Nr. 81. 23. März 1906,

Vorsitzender: (…) „Was haben Sie gesehen, als Sie ins Kabinett kamen?“

Angeklagte: „Unordnung, Kleider und Schuhe lagen herum. Mein Mann war sehr aufgeregt.“

(…) Vorsitzender: „Was hat er gesagt?“

Angeklagte: „Dass sie schläft.“

Vorsitzender: „Und das haben Sie geglaubt?“

Angeklagte: „Später hat er gesagt: Die wird nicht mehr wach.“

(…)

Vorsitzender: „Haben Sie davon gesprochen, wie Sie die Leiche fortschaffen werden?“

Angeklagte: „Zuerst haben wir sie zerstückeln wollen. (…) Dann hat er die Leiche in den Koffer gegeben. Ich habe sie nicht angerührt, weil es mich gegraut hat. Er hat gesagt, ich soll die Kleider der Böhm anziehen. Ich habe es nicht getan, weil es mich gegraut hat.“

Transkript Ende

Es folgt das Verhör mit dem Haupttäter. Das Äußere des Johann Prügl, der einen Salonanzug trägt, macht einen guten Eindruck, der sich jedoch rasch verflüchtigt, als er ein verworrenes Lügengespinst auftischt, dessen Unsinnigkeit ihm der Vorsitzende mehr als einmal vorhält.

Dann werden die beiden Frauen vernommen, die als erstes und zweites Opfer ausersehen waren. Die Köchin Marie Z. hat ihr Bräutigam bei einem Spaziergang „an einer einsamen Stelle im Wald“ gefragt, ob sie etwa Geld bei sich habe. Die gewitzte Frau antwortete mit Nein, „obwohl sie sechzig Kronen an der Brust verwahrt hatte“, und der Spaziergang endete ohne Zwischenfälle.

Die nächste Zeugin, Katharina S., durchschaute ihn, ließ sich aber von den Tränen und Bitten seiner Frau bewegen, keine Anzeige zu erstatten wegen der 40 Kronen, die er ihr bereits abgeluchst hatte. Dann der Zeuge Josef Iezek, Bettgeher bei jener Frau Kanda, die das Zimmer in der überbelegten Wohnung innehatte. Ihm sagte Frau Kanda, sie habe „in der zehnten Vormittagsstunde aus dem Prüglschen Kabinett ein Geräusch vernommen, als ob jemand erwürgt würde.“

Auf sein Anraten ging sie zur Polizei, wo man sie jedoch mit einem „Wer weiß, ob das wahr ist!“ wieder wegschickte. Erst als am nächsten Tag die Leiche aufgefunden wurde, wurden die Beamten aktiv.

Unter vielen anderen Zeitungen berichtet aus die „Reichspost“ ausführlich über den Prozess.

Prügl_10

Prügl macht sich keine Freunde bei den Geschworenen, als er immer neue unglaubwürdige Lügen auftischt, die der Vorsitzende mit steigender Ungeduld zerpflückt.

Transkript BB „Reichspost“ vom 24. März 1906

Prügl erzählt weiter, seine Frau sei fortgegangen und die Böhm habe das Kabinett zugesperrt und sich schlafen legen wollen. Er habe ihr im Schlafe die Geldbörse wegnehmen wollen. Da habe die Böhm plötzlich die ganze Sache bedenklich gefunden und erklärt, Prügl habe es nur auf ihr Geld abgesehen und sie werde ihn anzeigen. Da habe ich, sagt er, eine Wut bekommen, dass sich im Zimmer alles mit mir gedreht hat, mir ist schwarz vor den Augen geworden, ich hab nicht mehr gewusst, was ich tue.

Präsident: Das ist etwas ganz Neuen. Warum haben sie dann Ihrer Frau erzählt, dass die Böhm geröchelt hat, dass Ihnen das zuwider war, dass sie nicht sterben will, usw.?

Angeklagter: Wie ich dann das Unglück gesehen hab, hab ich mir gedacht, dass es so gewesen sein wird.

Präsident: Sie haben aber das Mädchen nicht nur gewürgt, sondern auch mit einer Hacke geschlagen. Haben Sie die Hacke zur Hand gehabt?

Angeklagter: Nein, sie war hinterm Ofen. (…) sie war ja schon tot, ich weiß nicht, wie das mit der Hacke war.

Präsident: Ich glaube, Sie haben die Hacke längst in Ihrer Mördergrube vorbereitet gehabt.

Transkript Ende

Das Urteil

Laut dem Bericht in der „Wiener Kriminalchronik“ erging schließlich folgendes Urteil:

Johann Prügl wurde wegen meuchlerischen Raubmordes zum Tode verurteilt, später jedoch zu lebenslänglichem schwerem Kerker begnadigt, den er in der Strafanstalt Garsten verbüßte. Lange dauerte seine Haft nicht: Mit nur 39 Jahren starb er an der „Wiener Krankheit“, die er sich zweifellos in den Elendsquartieren der Stadt zugezogen hatte. Seine Gattin Barbara Prügl wurde zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Quellen:  

  • ANNO
  • Wien-Wiki
  • Wiener Kriminalchronik Max Edelbacher-Harald Seyrl, Verlag Österreich, Edition S, 1993, ISBN 3-7046-0421-6 (Die Tote im Kaiserpark“, Seite 107)
  • Begleittext zur Ausstellung Sonderschau „Die Ringstraße des Proletariats“, die im Jahre 2015 im Museum Das Rote Wien im Karl-Marx-Hof zu sehen war.
  • Wiener Tramway-Museum

Video zum Beitrag

meine meinung

Aus unverschuldeter, bitterer Not, da ihm und seiner Familie trotz regelmäßiger Arbeit kaum eine Krone in der Woche zum Lebensunterhalt blieb, wurde der Motorführer Johann Prügl im Einverständnis mit seiner Frau zum Mörder. Selbst das Gericht zeigte Mitleid mit der verzweifelten Lage des Täters, vergaß freilich auch die Qualen des Opfers nicht – eines einfachen Mädchens, das Liebe suchte und wegen seiner Ersparnisse erschlagen wurde. Drei Opfer einer Zeit unbarmherziger sozialer Kälte.


Verfügen Sie über weitere Informationen zu Johann oder Barbara Prügel oder Berta Böhm? Dann freuen wir uns, wenn sie uns diese zukommen lassen.

Kontakt: office@bm15.at


Hier finden Sie alle Artikel unserer Serie „History & Crime in Rudolfsheim“

Teil 1: Die Verhaftung des Einbrecherkönigs Johann Breitwieser (1918)
Teil 2: Die Hyäne der Armen – Der Kinder-Betrüger Georg Prödinger (1905)
Teil 3: Von einer Greisin erstochen – Das Ende des „Revolvergustl“ (1928)
Teil 4: Der Gattinnenmörder Anton Karner – Eifersucht in der Enge der Proletarierwohnung (1913)
Teil 5: Motorführer Johann Prügl als Dienstmädchenmörder (1905)
Teil 6: Der Raubmörder und der tapfere Wirt (1920)
Teil 7: „Noch 48 Stunden, dann hol ich ihn mir, den Hager“ (1911)
Teil 8: Eine Greisin im Schlaf abgeschlachtet: Der Raubmörder Anton Senekl (1902)
Teil 9: Raubmord an einem Kind – Der Fall Rudolf Kremser (1914)

Sie haben noch nicht genug von „History & Crime in Rudolfsheim“?
In unserer Broschüre „Blut im Beisl. Historische Kriminalfälle in Gasthäusern des 15. Bezirks um 1900“ können Sie weiterschmökern.


Liebe Leserin, lieber Leser!

Ihnen fehlt etwas? Sie haben weiterführende Informationen?
Dann schreiben Sie doch einfach einen Kommentar. Nützliche Inhalte mit Quellenangabe bauen wir – mit Verweis auf Ihren Kommentar – gerne noch in den Text ein. Alternativ können Sie uns auch ein Mail an office@bm15.at schicken!

Oder wie es Anton Ziegler 1828 (*) so schön ausgedrückt hat:

Jede Belehrung und Berichtigung, welche in Beziehung auf größere Vervollkommnung und Gemeinnutzmachung dieser Herausgabe beabsichtigt ist, wird mit dem ausgezeichnetsten Danke empfangen.

(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann teilen Sie ihn doch mit Ihren FreundInnen!

Schau mal! Ich hab was Interessantes auf WIENfünfzehn entdeckt!

Ein Kommentar zu „Motorführer Johann Prügl als Dienstmädchenmörder (1905)

Hinterlasse einen Kommentar