Lesen Sie heute Teil 3 unserer neunteiligen Serie „History & Crime in Rudolfsheim (Fünfhaus) Anno dazumal“ von Barbara Büchner.
Barbara Büchner hat in Archiven recherchiert, dutzende Zeitungsartikel durchforstet und spektakuläre Fälle zusammengetragen, die sich auf dem Gebiet des heutigen 15. Bezirks zugetragen haben oder von Personen handeln, die im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus wohnhaft oder beruflich (oder sonst wie) tätig waren.
Verfolgen Sie heute mit uns das grauenhaftes Ende eines zerrütteten Familienlebens in Fünfhaus, das mit einem Totschlag an dem Fünfhauser Gastwirt August Fritschko, genannt „Revolvergustl“ endete.
Als Quelle dient u.a. die „Illustrierte Kronen-Zeitung“ vom 23. November 1928 und „Das Kleine Blatt“, vom 23. November 1928.


Siebzigjährige ersticht Neffen

„Die Hauptsache ist, dass meine Nichte von dem Kerl erlöst ist.“
(Marie Picka (auch: Pitzka), die Mörderin des “Revolvergustl“)
Selten hat ein an sich alltäglicher Kriminalfall in Wien für eine solche öffentliche Anteilnahme gesorgt wie die Tat der Pfründnerin (Erklärung siehe weiter unten) Marie Picka.
Die Täterin: ein 70-jähriges, abgearbeitetes und verhärmtes Weiblein, das sich zitternd auf seinen Stock stützt. Das Opfer: Der hochgewachsene, bullige Gastwirt August Fritschko, genannt „Revolvergustl“, ein schwerer Alkoholiker und amtsbekannter Gewalttäter, der nicht nur Frau und Kinder, sondern sogar seine eigenen Gäste bedrohte und misshandelte.
Alle großen Zeitungen berichteten über die Tat und später den Prozess – und niemand machte ein Hehl daraus, dass die Sympathien zur Gänze auf seiten der Täterin waren, die denn auch mit der höchst ungewöhnlichen Strafe von einem Monat Arrest davonkam.

Der Tatort – Das Gasthaus in der Clementinengasse 11
In einem solchen Alt-Wiener Haus (siehe Bild oben, das ein Nachbarhaus, Clementinengasse 15, zeigt) befand sich im Jahre 1928 die Gastwirtschaft des August Fritschko. Sie trug möglicherweise den Namen „Zum Erzengel Gabriel“, da im Jahrbuch der Gastwirte von 1903 eine Wirtschaft dieses Namens angeführt ist. Vermutlich behielten diesen auch die Nachfolger bei (belegt sind Thomas Kriczer – ca. 1913-1919 – und als August Fritschkos Nachfolger Franz Fleischhacker – ca. 1929 bis nach 1931-), dokumentiert ist eine solche Benennung allerdings nicht. In den zahlreichen Zeitungsberichten über den Mord wird kein Name genannt.

[Transkript (Barbara Büchner) Illustrierte Kronen-Zeitung, 23. November 1928, Seite 4 und 5]
Grauenhaftes Ende eines zerrütteten Familienlebens. – Totschlag an einem Fünfhauser Gastwirt.
„Lieber ins Kriminal als in die Versorgung.“
In der Familie eines Wiener Gastwirtes ist durch die Trunksucht und durch den Leichtsinn des Mannes eine Atmosphäre von Hass entstanden, (…). So genügte ein geringfügiger Anlass, um eine Katastrophe heraufzubeschwören.
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In der Familie eines Wiener Gastwirtes ist durch die Trunksucht und durch den Leichtsinn des Mannes eine Atmosphäre von Hass entstanden, die unglückselige Veranlagung des Wirtes führte auch den finanziellen Zusammenbruch der Familie herbei. So genügte ein geringfügiger Anlass, um eine Katastrophe heraufzubeschwören.
Mittwoch spät nachts hat die Tante des Gastwirtes, die 70-jährige Marie Pitzka, ihren Neffen durch drei Messerstiche getötet.
So furchtbar war der Groll der alten Frau, dass sie keine Reue empfand, als sie erfuhr, dass der Gestochene tot sei. Sie maß ihm die Schuld daran bei, dass sie wieder in die Versorgungsanstalt gehen musste. Durch ihr Verbrechen hat die Frau, die nie vorher mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, erreicht, was sie selbst anstrebte: Sie kam ins Kriminal, statt ins Versorgungsheim, vor dem sie Angst hatte.
Transkript Ende
[Transkript (Barbara Büchner) Das Kleine Blatt, 23. November 1928, Nr. 325, Seite 2]
„Hier wird nicht der Wein getauft …“
In vielen Wirtshäusern findet man an der Wand eine Tafel, die folgenden Spruch enthält:
„Hier wird nicht der Wein getauft
Weil der Wirt ihn selber sauft.“
Für August Fritschko galt diese Devise in ganz besonderem Maße. Er soff selber und er soff viel, und seine unglückliche Gattin Marianne hatte an der Seite des rohen und brutalen Trunkenboldes ein wahres Martyrium durchzumachen. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht von dem zärtlichen Gatten in erbärmlichster Weise verprügelt oder mindestens unflätig beschimpft worden wäre. Die Geschichte ihrer Ehe besteht aus einer ununterbrochenen Kette von Misshandlungen.
Transkript Ende
Häusliche Gewalt
Nach der damals geltenden Rechtslage hatte Marianne Fritschko samt Tochter und Tante keinerlei Möglichkeit, bei Polizei oder Gericht Hilfe zu finden. Gewalt im familiären Bereich galt, solange sie nicht mit dem Tod des Opfers endete, als Privatsache. Österreich war das erste Land, das ein Gewaltschutzgesetz für Personen im familiären Bereich erließ – allerdings erst Anno Domini 1997!

Ein Eindruck der Wohn- und Lebensverhältnisse der Familie Fritschko
Oben sehen Sie die Ansicht eines Hinterhofes in der alten Clementinengasse. Offensichtlich war das Haus Clementinengasse 11 selbst kein Gasthaus, sondern dieses nur dort (vermutlich im Parterre) untergebracht. Die Konskriptionsnummer Fünfhaus Nr. 29 verrät außerdem, dass es sich bei Clementinengasse 11 um eine Adresse gehandelt haben muss, die sehr alt ist und vermutlich bereits um 1800 bebaut gewesen sein dürfte.
Die Vorgeschichte des tragischen Ereignisses fasst die Illustrierte Kronen-Zeitung bei der Berichterstattung vom Prozess kurz zusammen:
[Transkript (Barbara Büchner) Illustrierte Kronen-Zeitung 23. März 1929]
Von der alten Tante erstochen. Das Ende eines Säufers.
Eine alte, weißhaarige Frau steht zitternd und auf einen Stock gestützt vor den Schöffen. Es ist die 70jährige Pfründnerin Marie Picka, die wegen Überschreitung der Notwehr und Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens angeklagt ist.
PfründnerIn
BewohnerIn eines Altersversorgungshauses, das durch Stiftung eines Wohltäters / einer Wohltäterin gegründet oder aus städtischen Mitteln erstellt wurde. Die Institution diente zur Aufnahme mittelloser alte Leute, die keine Angehörigen mehr hatten. Sie fanden dort Unterkunft und Pflege.
In Wien ist hier vor allem das Bürgerversorgungshaus in der Währingerstraße – an dieser Stelle befindet heute der Arne-Carlsson-Park – und das 1904 erbaute, 1922 umfassend modernisierte Versorgungshaus Lainz zu nennen.

Ihre Nichte Marianne, die Gattin des ehemaligen Kellners August Fritschko, besaß ein Kaffeehaus in der Leopoldstadt. Sie nahm ihre alte Tante Marie Picka, die mit großer Liebe an ihr hing, aus der Versorgung zu sich ins Haus und die brave alte Frau arbeitete in der Küche mit und betreute die beiden Kinder ihrer Nichte.
Deren Mann jedoch hatte sich dem Trunk ergeben. Er schlug häufig im Kaffeehaus Lärm und geriet deshalb mit den Gästen in Streit, sodass wiederholt die Wache einschreiten musste und die Gäste schließlich ausblieben. Der Geschäftsgang verschlechterte sich immer mehr und Frau Fritschko musste sich eines Tages entschließen, das Kaffeehaus zu verkaufen, sie versuchte es neuerlich, sich in die Höhe zu arbeiten.
Jedoch auch hier wiederholte sich das gleiche Spiel. Der Mann vertrieb durch sein gewalttätiges Benehmen einen Gast nach dem anderen, Frau Marianne geriet in Schulden und musste am Ende zufrieden sein, das Geschäft mit Verlust loszuschlagen. Der armen alten Tante blieb nichts übrig, als wieder in die Versorgung zurückzukehren.
[Ende Transkript]
Die Angst vor dem Versorgungshaus
Und eben davor hatte die alte Frau so schreckliche Angst, dass man von ihr die Äußerung gehört hatte: „Lieber geh´ ich ins Kriminal als in die Versorgung!“
Warum, wird aus den Zeitungsberichten nicht deutlich, denn seit 1904 gab es Wien das Versorgungshaus in Lainz. Dieses war erst kurz zuvor, im Jahre 1922, von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung grundlegend modernisiert worden, kann also kein solcher Ort des Schreckens gewesen sein.
Möglicherweise war Frau Picka bei ihrem ersten Aufenthalt noch im bereits 1860 erbauten, hoffnungslos überalterten Bürgerversorgungshaus in der Währingerstraße, untergebracht worden, das erst 1927 endgültig aufgelassen wurde (ein Großteil der Pfleglinge war bereits im Jahre 1904 nach Lainz übersiedelt worden, doch befanden sich im Jahr vor dem Abriss immerhin noch 253 Personen im Haus.)
Warum auch immer – Marie Picka befand sich an dem trostlosen Abend des 22. November 1928, an dem sie und ihre Nichte auf den bereits zum Umzug gepackten Koffern und Kisten saßen, in einem seelischen Ausnahmezustand: Überwältigender Groll auf Fritschko, den Verursacher ihres Jammers, und panische Angst tobten in ihr.
In ein „Binkerl“ gepackt hatte sie den gesamten Besitz, den sie noch mitnehmen konnte: ein Kaffeehäferl und ein Jausenbesteck, zu dem ein kleines, aber spitzes und scharfes Messer „zum Speck- und Brotschneiden“ gehörte. Dieses Messer sollte Fritschko den Tod bringen.
[Transkript (BB) Illustrierte Kronen-Zeitung, 23. November 1928, Seite 4 und 5]
Der Streit um das Nachtlager.
Als Fritschko heimkam, hatte sich die alte Frau in der Küche schon zur Ruhe begeben. Auch Hildegard, (die 14-jährige Tochter, Anm. d. V.) schlief bereits auf dem Diwan im Zimmer. Marianne Fritschko sagte zu ihrem Manne, er müsse, da sein Bettzeug schon verpackt sei, in ihrem Bette schlafen.
Der Mann aber wollte sich auf dem Fußboden ein eigenes Lager bereiten. Die Frau gab nach, sie räumte ihm den Platz auf dem Diwan ein. Hildegard hätte bei ihr schlafen sollen. Auch damit aber war der Mann nicht zufrieden. Er wollte sich auf Kisten legen, die zerbrechliche Gegenstände enthielten. Die Frau duldete dies nicht und stieß den Mann weg, so dass er gegen das Bett taumelte.
Nun stürzte sich Fritschko in einem Wutanfall auf seine Frau, er versetzte ihr Schläge und gab ihr einen wuchtigen Stoß. Dies alles geschah vor den Augen der Tochter. Frau Fritschko war gegen die Türe getaumelt, durch den Lärm des Streites wurde ihre Tante aus dem Schlaf geschreckt.
Drei Stiche mit dem Messer.
„Die Hauptsache ist, dass meine Nichte von dem Kerl erlöst ist.“
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Sie vernahm die Hilferufe Hildegards und eilte in das Zimmer. Als sie sah, dass die Nichte von dem Gastwirt misshandelt wurde, kam sie der Bedrängten zu Hilfe. Fritschko packte nun die alte Frau und würgte sie am Halse. Man sah später die Spuren, blaue Flecken und Kratzwunden. Frau Pitzka wurde von dem Wütenden zu Boden geschleudert, sie raffte sich wieder auf und eilte in die Küche.
Ihr Blick fiel auf das Messer, das auf dem Waschtisch lag. Sie packte es und eilte wieder ins Zimmer zurück. Blindlings stach sie auf Fritschko los. Mit Stichwunden im Oberarm, am Rumpf und am Schlüsselbein brach der Gestochene zwischen dem Bett und einem Reisekorb zusammen. Wenige Minuten später war der Unglückliche eine Leiche.
Mit gellenden Hilfeschreien stürzte Frau Fritschko in den Hof, ein vor dem Haus patrouillierender Wachebeamte eilte in die Wohnung. Die Rettungsgesellschaft kam. Der Arzt konnte nicht mehr helfen.
Vom Kommissariat erschien Dr. Bubesch, der die ersten Verhöre durchführte und die Verhaftung der alten Frau verfügte. (…)
Trotz der späten Stunde sammelte sich vor dem Unglückshaus eine große Menschenmenge, die in erregten Worten das grässliche Geschehnis besprach. Unter den Versammelten machte rasch die Runde, was die alte Frau gesagt habe, als man sie verhaftete:
„Die Hauptsache ist, dass meine Nichte von dem Kerl erlöst ist.“
[Transkript Ende]
Der unbeweinte Tod des Un-Gustls
Mit seltener Einmütigkeit stimmten ihr die Umstehenden zu, sogar (wenn auch nur im Stillen) die amtierenden Polizisten, die oft und oft hatten ausrücken müssen, wenn August Fritschko seinem Spitznamen „Revolvergustl“ wieder einmal alle Ehre machte:
Er trug trotz Verbots ständig eine geladene Waffe bei sich. Dass er niemand erschoss, ist wohl nur dem Zustand zuzuschreiben, dass er sich, wie gewöhnlich „im Öl“, mit dem Zielen schwertat.
Unter seinen vom Alkohol befeuerten Gewaltexzessen hatte nicht nur seine Familie zu leiden, sondern seine ganze Umgebung. Fritschko war wiederholt wegen Trunkenheitsexzess, Wachbeleidigung und unbefugten Waffentragens angezeigt worden.
Sogar die Gäste in seiner Wirtschaft saßen oft wie auf Nadeln, wenn der betrunkene Riese mit einer scharfgeschliffenen Axt neben sich auf einer Bank im Gastraum hockte und sie finster betrachtete. Da hat wohl mancher in aller Eile bezahlt und das Essen zur Hälfte stehen lassen, um dem ungastlichen Gasthaus mit heiler Haut zu entkommen.
[Transkript (BB) Das Kleine Blatt, 23. November 1928, Nr. 325, Seite 2]
Der Abstieg des „Revolvergustls“
August Fritschko führte auch noch einen anderen, für seinen Charakter sehr bezeichnenden Namen: „Revolvergustl“. So hieß er in der Leopoldstadt und in der angrenzenden Brigittenau, wo er als Gewalttäter und Radaumacher bekannt war.
Im zweiten Bezirk betrieb er früher ein Café, das, bevor er es übernahm, sehr gut ging. Als der „Gustl“ in dem Lokal erst einmal seinen Einzug gehalten hatte, verschlechterte sich der Geschäftsgang von Tag zu Tag. Ununterbrochen gab es Krawalle, immer wieder schritt die Polizei ein, aber der reichliche Genuss von Spirituosen und anderen stark alkoholischen Getränken war für den „Gustl“ ein nie versiegender Quell des Mutes, der ihn ständig zu neuen Heldentaten anspornte.
Er bedrohte seine Gäste und erwarb sich so den mehr rum- als ruhmvollen Titel „Revolvergustl“. Es gab Tage, an denen er eine Hacke neben sich auf der Sitzbank liegen hatte und so kann es nicht wundernehmen, dass sich so mancher Gast mit Grausen abwendete und dem „Wirte wundermild“ die Kundschaft ausblieb. Es wurde immer leerer im Café und schließlich musste es mit Verlust verkauft werden.
Ein Abschied vom Wirtsberuf, der ein Abschied vom Leben wurde
Mit dem Gelde kaufte Fritschko das Gasthaus in der Clementinengasse. Wirt zu sein, gefiel ihm noch besser als der Cafetier-Beruf. Er sprach den Produkten seines Kellers mit vorbildlichem Eifer zu, doch war diese Tätigkeit keine Reklame für das Gasthaus.
Gewöhnlich war der Wirt, wenn Gäste hinkamen, sternhagelvoll betrunken und zwischen ihm und seiner Frau kam es zu fürchterlichen Auftritten, die das Gasthaus zu einem sehr ungemütlichen Aufenthaltsort machten.
Mehr als einmal waren die Gäste genötigt, der unglücklichen Frau des Säufers zu Hilfe zu eilen, um sie vor den Misshandlungen ihres Mannes zu schützen.

„Lustig samma!“
Ein Achterl, ein Schnapserl, ein Bier gehörte zu jeder vergnügten Gesellschaft in den Gaststätten der 20-er Jahre. Aber der Alkoholismus zählte auch zu den größten Problemen der Stadt, sodass unter Stadtrat Julius Tandler (1869-1936) eine umfassende Trinkerfürsorge eingerichtet wurde.
Transkript Fortsetzung
(…)
Er ging ins Zimmer, wo seine Frau bereits im Bett lag, und wollte schlafen. Da schon alles gepackt war, sagte ihm die Frau, er möge sich zu ihr ins Bett legen. Fritschko bestand aber mit der für Schwerbetrunkene typischen Hartnäckigkeit darauf, sich eine eigene Liegestatt auf dem Boden herzurichten. Die Frau machte ihm nun auf dem Sofa Platz, auf dem die Tochter Hildegarde lag.
Aber auch das passte ihm nicht. Schließlich legte er sich auf eine Kiste, aber da sie zerbrechliche Gegenstände enthielt, zog die Frau den Volltrunkenen hinunter und wollte ihn ins Bett schleppen.
In diesem Augenblick kam Fritschko einigermaßen zu sich und begann auf seine Frau loszuschlagen. Er prügelte sie windelweich, schleuderte sie mit voller Wucht gegen die Tür und randalierte so laut, dass man es im halben Hause hörte. Die Frau rief laut um Hilfe und Frau Pitzka, die in der Küche geschlafen hatte, kam herein, um ihrer Nichte beizustehen.
Fritschko würgte sie und warf die Greisin zu Boden. Um ihr Leben fürchtend, ergriff sie, am Boden liegend, ein Küchenmesser, das in dem Bündel, das ihre Habseligkeiten enthielt, steckte und stach auf ihren Bedränger los.
Der „Revolvergustl“ brach zusammen und röchelte. Polizisten, die in das Haus eindrangen, fanden ihn tot auf. Er hatte drei Stichwunden, eine beim linken Schlüsselbein, die andere in der linken Rumpfhälfte und die dritte im linken Oberarm.
Das kleine, blutbefleckte Messer lag neben der Leiche. Marie Pitzka erklärte, dass sie in Notwehr blindlings zugestochen habe. Ihr Hals zeigte Würgespuren. Sie wurde ins Inquisitenspital gebracht.
[Transkript Ende]
Der Prozeß gegen die Marie Picka
Im Jahre 1929 – da fand der Prozess gegen Marie Picka statt – wurden Gerichtsverfahren nach dem Strafgesetzbuch 1852 (STG 1852) abgehandelt, einem unmittelbaren Nachfolger des 1787 auf Veranlassung Kaiser Josef II. neu überarbeiteten Strafgesetzbuches („Josephina“).
Für die greise Täterin kamen zwei Milderungsgründe in Betracht:
§. 2. Gründe, die den bösen Vorsatz ausschließen.
Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet:
g) wenn die Tat (…) in Ausübung gerechter Notwehr erfolgte.
Gerechte Notwehr ist aber nur dann anzunehmen, wenn sich aus der Beschaffenheit der Personen, der Zeit, des Ortes, der Art des Angriffes oder aus anderen Umständen mit Grund schließen lässt, dass sich der Täter nur der nötigen Verteidigung bedient habe, um einen rechtswidrigen Angriff auf Leben, Freiheit oder Vermögen von sich oder Anderen abzuwehren; – oder dass er nur aus Bestürzung, Furcht oder Schrecken die Grenzen einer solchen Verteidigung überschritten habe. –
46. Milderungsgründe: a) aus der Beschaffenheit des Täters;
Milderungs-Umstände, welche auf die Person des Täters Beziehung haben, sind:
(…)
d) wenn er in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühle entstandenen heftigen Gemütsbewegung sich zu dem Verbrechen hat hinreißen lassen.
Dass beides in höchstem Maße zutraf, dafür brauchte es wohl keine weiteren Beweise – allein die Würgemale am Hals der Greisin sprachen eine deutliche Sprache!
[Transkript (Barbara Büchner) Kleine Volks-Zeitung, 23. November 1928, Nr. 325, Seite 6)
Die polizeilichen Erhebungen ergaben, dass die alte Frau zweifellos in Notwehr gehandelt hat. Dass sie der Trunkenbold tätlich angegriffen hat, beweisen Würgespuren an ihrem Hals und Kratzspuren an beiden Armen, überdies war ihr Hemd blutig. Sowohl das junge Mädchen wie auch die Frau des Ermordeten bestätigten die Angaben der Täterin, wonach Fritschko sie gewürgt und zu Boden geworfen habe.
[Transkript Ende]
Das Urteil
Das Urteil lautete auf einen Monat strengen Arrest, wobei die zwei Monate Untersuchungshaft auf das Strafmaß angerechnet wurden. Marie Picka verließ den Gerichtssaal als freie Frau.

Quellen:
ANNO
Wien-Wiki
Kulturverein Fünfhaus
Alamy Stock Photo
Recherchen zur Clementinengasse: Waltraud Zuleger
Video zum Beitrag
Sollten Sie über weitere Informationen zu August, Marianne oder Hildegard Fritschko bzw. Marie Picka verfügen, würden wir uns freuen, wenn sie uns diese zukommen lassen könnten.
Kontakt: office@bm15.at

Obwohl in den 1920er Jahren unter Gesundheitsstadtrat Julius Tandler die ersten Ansätze einer modernen Trinkerfürsorge unternommen wurden, dauerte es noch lange, bis man Alkoholismus als Suchterkrankung erkannte. Dass Abhängige nicht mehr Herr seiner selbst sind, soll das Verhalten eines Menschen wie August Fritschko nicht entschuldigen – aber heute wissen wir, dass auch das Leben des allseits verhassten „Revolvergustl“ eine persönliche Tragödie war. Wer weiß, wie oft er sich selbst für „die Sauferei“ verfluchte, der er doch nicht entkommen konnte!
Hier finden Sie alle Artikel unserer Serie „History & Crime in Rudolfsheim“
Teil 1: Die Verhaftung des Einbrecherkönigs Johann Breitwieser (1918)
Teil 2: Die Hyäne der Armen – Der Kinder-Betrüger Georg Prödinger (1905)
Teil 3: Von einer Greisin erstochen – Das Ende des „Revolvergustl“ (1928)
Teil 4: Der Gattinnenmörder Anton Karner – Eifersucht in der Enge der Proletarierwohnung (1913)
Teil 5: Motorführer Johann Prügl als Dienstmädchenmörder (1905)
Teil 6: Der Raubmörder und der tapfere Wirt (1920)
Teil 7: „Noch 48 Stunden, dann hol ich ihn mir, den Hager“ (1911)
Teil 8: Eine Greisin im Schlaf abgeschlachtet: Der Raubmörder Anton Senekl (1902)
Teil 9: Raubmord an einem Kind – Der Fall Rudolf Kremser (1914)

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(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828
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Ein Kommentar zu „Von einer Greisin erstochen – Das Ende des „Revolvergustl“ (1928)“