Der scheintote Musiklehrer

Diesmal geht es in „History & Crime“ um ein äußerst populäres Thema in den Zeitungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sowohl in Romanen wie auch in (dubiosen) Tatsachenberichten – “Scheintot begraben”. Das kommende Allerheiligen/Allerseelen-Fest ist uns Anlass, dem geheimnisvollen Ende des Musiklehrers Hans Placek nachzuspüren – und gleichzeitig der bis heute nicht völlig verschwundenen Furcht vor dem Lebendig-Begraben-werden.

Barbara Büchner recherchiert unermüdlich in Archiven, durchforstet dutzende Zeitungsartikel und trägt für Sie die spektakulärsten Fälle zusammen, die sich auf dem Gebiet des heutigen 15. Bezirks zugetragen haben oder von Personen handeln, die im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus wohnhaft oder beruflich (oder sonst wie) tätig waren.

History & Crime
“Allerseelen 1903”, Friedhofsbesuche im Alten Wien, Bild: wikimedia commons, gemeinfrei 

Als die Wiener*innen am 9. November 1908 ihre Zeitungen aufschlugen, mag so manchem ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen sein.

Vom Polizeikommissariat Rudolfsheim (Kellinggasse 2) ausgehend verbreitete sich die Nachricht, ein Mann aus dem Bezirk sei scheintot begraben worden – in einen engen Sarg gepfercht und tief in der Erde verschüttet, trotz der herzzerreißenden Beteuerungen seiner Witwe, ihr Mann sei nicht tot!

Das “Wiener Montags-Journal”, die “Illustrierte Kronen-Zeitung” und andere Zeitungen brachten fast gleichlautende Artikel.

Was war geschehen? 

Hans Placek (sein Alter ist nicht angegeben), Inhaber einer Musikschule, war am 2. November in seiner Wohnung in der Mariahilferstraße 158 verstorben.

Die Wohnung von Hans Placek in der Mariahilfer Straße 158 (ganz in der Nähe des Bezirksmuseum)

Noch bis wenige Tage vor seinem Tod war er seinem Beruf nachgegangen. Dann erkrankte er plötzlich schwer und starb überraschend schnell –  nach Ansicht seines Hausarztes an einer schon längere Zeit bestehenden Arterienverkalkung.

Der vom Magistratischen Bezirksamt für den 15. Bezirk beauftragte Totenbeschauarzt erklärte Hans Placek für tot, und der Mann wurde begraben (wo, ist den Zeitungsmeldungen leider nicht zu entnehmen).  

Das Begräbnis muss ziemlich rasch erfolgt sein, denn bereits am 5. November wurde im Polizeikommissariat Rudolfsheim eine mysteriöse Anzeige eingebracht. Hans Placek, so der Anzeiger (oder die Anzeigerin), sei nur scheintot gewesen und in diesem Zustand begraben worden! Zwar gab die Person keinen Namen an, wollte die Anzeige auch nicht unterschreiben, aber die meisten Wiener Zeitungen brachten einen gar nicht so kleinen Bericht.  

1908-11-05 Wiener Montags-Journal _Hans Placek

Der Bericht im Wiener Montags-Journal vom 9. November 1908 

Transkript 

Am 5. d. M. gelangte an das Polizeikommissariat Rudolfsheim eine anonyme Anzeige, die besagte, dass der am 2. d. M. verstorbene Musikschulinhaber Hans Placek scheintot begraben worden sei. Das Polizeikommissariat stellte sofort beschleunigte Erhebungen an. Der behandelnde Arzt hatte einen Schein ausgestellt, der die Diagnose „Arterienverkalkung“und den Zusatz „ist gestorben am 2. November 1908 um halb 10 Uhr vormittags“ enthielt. Die amtliche Totenbeschau ergab Verkalkung der Schlagadern als Todesursache. 

Transkript Ende 

Die Behörde “stellte sofort beschleunigte Unternehmungen” an.  Fuhr man also auf der Stelle auf den Friedhof und öffnete das frische Grab? Immerhin war anzunehmen, dass der Unglückliche zu diesem Zeitpunkt verzweifelt am Sarg klopfte und kratzte und versuchte, der immer weniger werdenden Luft in seinem schrecklichen Gefängnis noch ein paar Atemzüge abzuringen.

Was taten die Beamten des Polizeikommissariats Rudolfsheim? Lesen wir weiter! 

Transkript 

Nachdem das Magistratische Bezirksamt für den 15. Bezirk von dem Akt Kenntnis genommen, wurde er der Staatsanwaltschaft abgetreten. Ob der Mann nach der Behauptung der Anzeige noch am Leben war, ist wohl das Wichtigste und statt sofort eine Exhumierung vorzunehmen, wird der Akt „amtsmäßig” behandelt. Das ist scheinbar die Hauptsache. 

Transkript Ende 

Gewiss, eine anonyme Anzeige ist keine sehr verlässliche Quelle, dennoch empörte sich nicht nur das “Wiener Montags-Journal”, sondern auch andere Zeitungen über die Einstellung (“Nur net hudeln!”) der Behörde.  Warum?  

Es war eine Zeit, in der die Meldung “Scheintot begraben!” einen Nerv traf. Durchstöbert man die Zeitungen dieser Epoche im ANNO-Archiv, so finden sich dutzendweise Berichte über angeblich Tote, die bei der Leichenfeier aus dem Sarg sprangen oder, wenn sie Pech hatten, im Sarg oder auch auf dem Seziertisch erwachten – manche erst, nachdem der Obduzent das Skalpell bereits angesetzt hatte.

Manches waren alte Sagen wie der Geschichte von dem lüsternen Totengräber, der sich an einer schönen Leiche vergehen wollte und diese “durch die Glut seiner Begierde” so weit erwärmte, dass sie wieder zum Leben erwachte, oder den Grabräubern, die einer Leiche die Finger mitsamt den Ringen daran abschnitten, worauf diese schreiend erwachte.

Daneben tauchten auch immer wieder Berichte über “echte” Fälle von Scheintod auf. Die hatten sich allerdings allesamt in Amerika, in England oder in kleinen, schwer ausfindig zu machenden Dörfern auf dem Balkan ereignet. 

“Mit krampfhaft verzerrten Zügen und starr emporgehobenen Armen” soll fast zur selben Zeit, als die Affäre Placek die Wiener*innen erschreckte, ein Scheintoter aus dem aufgesprengten Sarg aufgetaucht sein.

Die berichteten Fälle ereigneten sich immer irgendwo in “Weitfortistan” und waren kaum zu überprüfen.  In Wien wurde nur ein einziger Fall gemeldet, der sich auf dem St. Marxer Friedhof ereignet haben soll, in der Zeitung “Die Debatte” veröffentlicht wurde und das Redaktionsteam wegen Verleumdung vor Gericht brachte, wo alle drei Beteiligten saftige Strafen abkassierten. 

Dennoch: Lebendig begraben zu werden, ist einer der schlimmsten Albträume der Menschheit, der Gedanke daran lässt einen nicht so leicht los. Als die Feuerbestattung zum Zankapfel zwischen Sozialdemokraten und Klerikalen wurde, brachte eine “schwarze” Zeitschrift ebenso schauervolle Berichte über Leichen, die im glühenden Krematoriumsofen erwachten.

Dazu muss freilich gesagt werden, dass der Begriff “scheintot” in den Zeitungen kunterbunt für die verschiedensten Zustände verwendet wird, von einer tiefen Ohnmacht bis hin zu den tatsächlich sehr reduzierten Lebensäußerungen bei vom Blitz Getroffenen, Erfrorenen, Vergifteten oder Ertrunkenen.

Gleichzeitig wird – offenbar inspiriert von E. A. Poes Schauergeschichten –  synonym der Begriff “Starrkrampf” verwendet, der eine totenähnliche Starre bezeichnen soll. Nun hat der Wundstarrkrampf (Tetanus) damit keinerlei Ähnlichkeit, er ist im Gegenteil durch heftige Krämpfe gekennzeichnet.

Beim “Stupor” wiederum, der in Folge schwerer psychischer Erkrankungen auftreten kann, ist zwar der Körper “wie gelähmt”, das Bewusstsein aber wach. Bei starker Unterkühlung kann es zu einer “vita minima” (“minimales Leben”) kommen, bei der äußere Lebenszeichen nur sehr spärlich vorhanden sind.

Bei allen drei Zuständen ist es jedoch unmöglich, dass der/die Erkrankte plötzlich vom Seziertisch springt oder die Trauerfeierlichkeiten durch unerwartetes Aufrichten im offenen Sarg stört, wie es angeblich im Jahr 1905 (auch wieder in “Weitfortistan”) eine alte Bäuerin getan hat: 

Titelbild der “Illustrierten Kronen-Zeitung” vom 16. Dezember 1905, ANNO

Eine Rettungsanstalt für Todtscheinende

Schon im Jahre 1803 war auf Anordnung der Stadt Wien eine “Rettungsanstalt für Todtscheinende” eingerichtet worden, und in den folgenden Jahrzehnten beschäftigten sich Ärzte und private Menschenfreunde immer wieder mit der Erfindung von Methoden, wie man “Scheintote” wiederbeleben oder auf jeden Fall vor dem schrecklichen Schicksal des Lebendig-Begraben-Werdens bewahren können. 

Man erfand Rettungsgeräte und entwickelte mehr oder minder sinnvolle Wiederbelebungsmaßnahmen. Eine bestand darin, mittels eines Blasebalgs Tabakrauch in den After zu blasen, andere empfahlen, kohlensäurehältiges Wasser in die Nase zu gießen oder zu überprüfen, ob das “geomagnetische Fluid” (die Aura) der Patient*innen erloschen ist. 

Aber auch durchaus ernsthafte Persönlichkeiten wie der Elektrizitätsforscher Dr. Stefan Jellinek befassten sich mit dem Thema “Scheintod” (in seinem Fall bei vom Blitzschlag getroffenen Personen, die man tatsächlich reanimieren kann), und die Zeitschrift der Feuerwehrleute brachte ausführliche, vernünftige Anweisungen für das (mögliche) Wiederbeleben stark unterkühlter Personen. 

Nun, wie gesagt, ist “scheintot” ein sehr schwammiger Begriff, und es gibt bis heute nur eine geringe Anzahl absolut sicherer Zeichen, die auch Laien verraten, dass der Tod eingetreten ist: 

  • Mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen (z.B. abgetrennter Kopf) 
  • Totenflecken (sobald das Herz zu schlagen aufhört, sammelt sich das nicht mehr zirkulierende Blut an den jeweils am tiefsten liegenden Stellen des Körpers und erzeugt dort blass-lila bis violette Flecke) 
  • Totenstarre (über einen gewissen Zeitraum anhaltende Steifigkeit der Muskulatur) 
  • Auflösungserscheinungen (zuerst als grünlicher Schimmer am besonders bakterienreichen Unterbauch sichtbar) 

Kein Wunder, dass Zeitungsreporter und Schriftsteller immer wieder danebengriffen (und es mag ihnen auch durchaus egal gewesen sein, wie medizinisch korrekt ihre Diagnose war, wenn sie nur eine fette Schauergeschichte von Klopfgeräuschen im Sarg liefern konnten). 

Die Ärzte dagegen ärgerten sich schwarz über so viel Unwissenheit, und mit schöner Regelmäßigkeit tauchen daher in den Zeitungen auch die “Gegendarstellungen” erboster Mediziner auf, die halb gebildeten Bürger*innen zu erklären versuchen, wie das nun ist mit den “scheintot Begrabenen”, die dann im Sarg rumpeln und poltern und zuletzt in grässlich verkrümmten Stellungen ausgegraben werden.

Beides kann nämlich durchaus vorkommen, aus dem einfachen Grund, dass die Fäulnis der Leiche ein ziemlich dramatischer Vorgang ist, bei dem der tote (und zwar wirklich tote) Körper sich heftig bewegt und Geräusche von sich gibt. Dasselbe kann bei der Verbrennung von Leichen passieren, da sich die Muskeln durch die Hitze des Brandes zusammenziehen und der Körper eine eigentümlich angriffslustige Stellung (“Fechterstellung”) einnimmt. 

Am 10. November schließlich erbarmte sich die “Illustrierte Kronen-Zeitung” all der Ängstlichen, die in der Nacht vom einem im Sarge um sein Leben kämpfenden Herrn Placek geträumt hatten, und erklärte mit seltener journalistischer Anständigkeit, was hinter der Entsetzen erregenden Meldung steckte. 

1908-11-10 Illlustrierte Kronen-Zeitung_Hans Placek , ANNO

Transkript: 

Wie ein unsinniges Gerücht entsteht. Wir haben bereits gestern über eine sonderbare anonyme Anzeige berichtet, die Donnerstag durch die Post beim Polizeikommissariat Rudolfsheim eingelaufen war. In der Anzeige hieß es bekanntlich, dass der am 2. d. in seiner Wohnung, Mariahilferstraße 158, verstorbene Musikschulinhaber Hans Placet, der am Mittwoch beerdigt wurde,  als Scheintoter begraben worden sei. Trotzdem die Mitteilung ganz unglaubwürdig klang und trotzdem der Anzeiger nicht unterschrieben hatte, ließ das Polizeikommissariat sofort Untersuchungen einleiten, die, wie erwartet, die völlig Unstichhältigkeit der Anzeige ergaben. 

Hans Placek krankte schon seit längerer Zeit an seinem Herzleiden und einer Verkalkung der Schlagadern. Der Hausarzt der Familie, Dr. Josef Kießling, hatte den Kranken in der letzten Zeit behandelt. Nach kurzem Krankenlager ist nun Placek  am 2.d. gestorben und durch den Arzt wurde die oben erwähnte Krankheit als Todesursache bezeichnet. Der vom Magistratischen Bezirksamt zur Totenbeschau entsendete Arzt hat den Tod des Mannes unzweifelhaft konstatiert (Anm: festgestellt).

Der Akt wurde zwar der Staatsanwaltschaft abgetreten, doch dürfte eine Exhumierung der Leiche nicht stattfinden.

Über die Art und Weise, wie das unsinnige Gerücht entstand, dass der Verstorbene nur scheintot war und als solcher begraben wurde, darüber gibt es nur eine Vermutung. Die Gattin des Verstorbenen, Frau Placek, war über den Tod ihres Mannes selbstverständlich ganz verzweifelt. Er war noch bis kurze Zeit vor seinem Tode seinem Beruf nachgegangen und war eigentlich nur wenige Tage schwer krank zu Bett gelegen. Als er am 2. d. starb und sich nicht mehr rührte, lief Frau Placek händeringend zu den Nachbarn und zum Hausmeister und alarmierte das Haus mit ihren wahnwitzigen Rufen: „Mein Mann,  mein Mann! Er ist nicht tot, es ist nicht möglich, dass er tot ist!“

Mit diesen, und ähnlichen Ausrufen, wie sie ja jeder, dem irgendein geliebtes Familienmitglied stirbt, in der ersten Verzweiflung ausruft, durcheilte sie das Haus und bat die Nachbarn, ihren Mann zu retten. Der Hausmeister und einige mitleidige Frauen begaben sich ins Sterbezimmer und versuchten  auf das inständige Flehen der unglücklichen Frau, den Leblosen wieder zu sich zu bringen. Als er aber bereits zu erkalten und starr zu werden begann, ließen sie selbstverständlich von dem nutzlosen Bemühen ab.

Die Rufe der verzweifelten Frau, dass „ihr Mann nicht tot sein könne“, hat nun höchstwahrscheinlich irgendein Leichtgläubiger für ernst genommen und daraufhin die Anzeige erstattet. 

Transkript Ende 

Der scheintote Musiklehrer: Als Podcast-Folge zum Anhören

Quellen 

ANNO 

meine meinung

Und nun könnten wir natürlich boshaft sein und hinzufügen: “Viele Jahre später sollte das Grab des Herrn Placek neu belegt und dessen Knochen entfernt werden. Da fand man zum allgemeinen Entsetzen …” Nein, fand man nicht. Aber es wird genug Leute gegeben haben, die den Kopf schüttelten und sagten: “Naja, den Ärzten muss man nicht alles glauben … die können sich irren … und den Polizisten is des doch egal … nachschauen, ob er wirklich tot ist, hätten´s jedenfalls können … da is sicherlich was vertuscht wordn …” Denn wo ein Gerücht einmal aufgetaucht ist, da pickt es. 

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(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828

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