Das Museum des „Totenerweckers“

Erinnerung an die Elektropathologische Sammlung von Professor Stefan Jellinek

Diesmal geht es in „History & Crime“ um eine Vorschau auf unsere Ausstellung zum „Tag der Bezirksmuseen – „Bildung in Rudolfsheim-Fünfhaus – einst & jetzt“: Erinnerung an die Elektropathologische Sammlung von Professor Stefan Jellineks, die von 1971 bis 1980 im damals leer stehenden Schulgebäude in 1150 Wien, Selzergasse 19 untergebracht war.

Barbara Büchner recherchiert unermüdlich in Archiven, durchforstet dutzende Zeitungsartikel und trägt für Sie die spektakulärsten Fälle zusammen, die sich auf dem Gebiet des heutigen 15. Bezirks zugetragen haben oder von Personen handeln, die im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus wohnhaft oder beruflich (oder sonst wie) tätig waren.

INHALT



(Ehemaliger) Standort des Elektropathologischen Museums

Das Elektropathologische Museum in der Selzergasse 19, Sammlung BM15

Selzergasse (15, Rudolfsheim), benannt (1888) nach dem Bürgermeister von Reindorf (1850-1863) Josef Selzer (1814-1877). Wien Geschichte Wiki

Selzergasse 19, Plan wien.gv.at

Nützlicher Helfer oder „entfesselter Dämon“

Seit der Jahrhundertwende wurde die Elektrifizierung von öffentlichen und privaten Gebäuden, Beförderungsmitteln, Unternehmen, Haushalten etc. immer selbstverständlicher. Die Rezeption war allerdings sehr zwiespältig. Während die einen den „entfesselten Dämon“ übermäßig fürchteten, wie ein Cartoon aus dem Jahr 1900 zeigt, gingen andere zu leichtfertig damit um. Man wusste einfach noch zu wenig über die neue Energiequelle:

Als der Arzt Stefan Jellinek um 1900 in Wien den Stromunfall als Forschungsfeld entdeckte, gab es nur wenige Vorarbeiten. Mit der Elektropathologie schuf er eine neue Disziplin, die grundlegend wurde für die moderne Prävention von Stromunfällen.

An unrestrained demon (Ein ungezügelter Dämon)
Unknown authorUnknown author, The Unrestrained Demon (anti-electricity cartoon) 03, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons


Stefan Jellinek: Pionier zwischen Medizin und Technik

Der Gerichtsmediziner und Elektrofachmann Dr. Stefan Jellinek war der vorerst einzige, der sich mit diesem Grenzgebiet zwischen Medizin und Technik ausführlich befasste. Vor allem interessierten ihn die Auswirkungen eines Stromschlags auf den menschlichen Körper.

Man nannte ihn ehrfurchtsvoll den „Totenerwecker“, weil er es mehrmals geschafft hatte, von Stromschlägen Getroffene noch ins Bewusstsein zurückzurufen, nachdem andere Ersthelfer längst die Hoffnung aufgegeben hatten.

„Zu reanimieren hört man erst auf, wenn sich Totenflecke bilden“, so ein berühmter Ausspruch des Arztes. (Totenflecke gehören zu den absolut sicheren Zeichen des Todes). „Tot“ waren diese Patienten nun freilich nicht gewesen, nur tief bewusstlos – er nannte das „elektrischer Scheintod“. Aber sie wären mit Sicherheit gestorben, hätte man die Wiederbelebungsversuche nicht fortgesetzt.

Jellinek habilitierte sich 1908 und wurde 1929 zum a.o. Univ.-Prof. an der Universität Wien berufen, wobei er sich neben der Behandlung der Opfer von Stromunfällen vor allem dem Unfallschutz und der Aufklärung über die Gefahren des elektrischen Stroms widmete.

Zu diesem Zweck veröffentlichte er nicht nur medizinische und populärwissenschaftliche Publikationen, sondern legte auch ab 1899 eine vorerst private Sammlung an, die sich allmählich zum elektropathologischen Museum entwickelte.

Seine Forschungen über die Auswirkungen von Stromschlägen haben viel dazu beigetragen, Feuerwehrleute, Sanitäter, Notärzte, aber auch Kriminalisten und Gerichtsmediziner auf das heutige Niveau der Kenntnis über elektrische Unfälle / Todesfälle zu heben.

1909 erschien sein in der Fachwelt viel beachtetes, grundlegendes Werk:

1909-05-03 „Medizinische Klinik“ S 54, ANNO

Transkript:

„Verlag Urban & Schwarzenberg in Wien und Berlin. Soeben erschienen: aus dem Universitätsinstitut für gerichtliche Medizin (Vorstand: Prof. Dr. A. Kolisko) Atlas der Elektropathologie von. Dr. S. Jellinek, Privatdozent für Elektropathologie an der Universität Wien. 230 meist farbige Abbildungen auf 96 Tafeln und 16 Textfiguren. Preis 43 K broschiert und 48 K gebunden.

Das außergewöhnliche Interesse, das auf der Hygienischen Ausstellung in Wien (1906), bei dem Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie in Berlin (1907) und bei dem 1. Internationalen Kongress für Rettungswesen in Frankfurt a.M. (1906) die elektropathologische Sammlung des Universitätsinstitutes für gerichtliche Medizin in Wien erregte, war die erste Veranlassung zur Herausgabe dieses Atlas. Die Sammlung besteht aus Moulagen, Spirituspräparaten, Aquarellen, Fotografien, Kleidungsstücken, Materialien, Modellen usw., durchwegs sich beziehend auf Unfälle durch elektrischen Starkstrom oder durch Blitzschlag, welche größtenteils von dem Verfasser selbst beobachtet wurden. In der Epikrise (Anm.: abschließende kritische Beurteilung eines Krankheitsverlaufs vonseiten des Arztes) eines jeden einzelnen Punktes sind jene Punkte hervorgehoben, die in klinischer, forensischer und gesundheitstechnischer Beziehung von Bedeutung sind.

Transkript Ende


Die Spuren des Museums sind nicht leicht zu verfolgen, zeigte es doch von Anfang an eine ausgesprochene „Wanderlust“ – erst wechselten die Adressen häufig, später dann die Besitzer.

1920-12-51 Der Brandschutz S 6, ANNO

Transkript

Elektropathologische Station. In Wien besteht seit 1909 eine elektropathologische Station, die der I. Medizinischen Universitätsklinik eingegliedert und 1919 im Garnisonsspital Nr. 2 untergebracht wurde. _ Diese Station wurde vom 1. November 1920 angefangen ins Garnisonspital Nr. 1 in Wien 9., Van-Swieten-Gasse verlegt. Hinsichtlich der Bestimmung der Station, Personen, die eine Unfall durch Elektrizität (Blitzschlag oder technischer Starkstrom) erlitten haben, aufzunehmen oder ambulatorisch zu behandeln, tritt anlässlich dieser Verlegung eine Änderung nicht ein. – Die ambulatorische Behandlung findet an allen Werktagen in der Zeit von 10 – 11 Uhr vormittags statt. – Mit der Leitung der Station bleibt nach wie vor Universitätsprofessor Dr. Stefan Jellinek betraut.

Transkript Ende


Das Schicksal eines jüdischen Gelehrten

Die Universität Wien richtete als erste weltweit einen eigenen Lehrstuhl für Elektropathologie ein. 1936 wurde auch das Museum in die Universität überführt.

1939 ereilte Professor Jellinek das Schicksal so vieler jüdischer Gelehrter: Sein Museum – das zum Stichtag 12. März 1938 rund 2.000 Objekte umfasste, darunter Moulagen, anatomische Präparate, Aquarelle, beschädigte Objekte aus der Elektro-Wirtschaft etc. – wurde von den Nationalsozialisten geschlossen.

Er selbst konnte mit seiner Familie noch rechtzeitig nach England fliehen, wo er seine Arbeit fortsetzte. Nach der Rückkehr Jellineks aus der Emigration in Großbritannien wurde das Museum 1947 im ehemaligen Garnisonsspital neu eingerichtet.

Nach Jellineks Tod (er starb 1968 im Alter von 97 Jahren in Edinburgh) übernahm sein Mitarbeiter Ing. Franz Maresch die Leitung des Museums und eröffnete es am 13. Mai 1971 im damals leerstehenden Schulgebäude Selzergasse, das von der Gemeinde Wien zur Verfügung gestellt worden war.

1971 Soziale Sicherheit S 229 + 230, ANNO
Führung durch das Elektropathologische Museum in der Selzergasse 19, Sammlung BM15

Ab 1992 hatte es verschiedene Besitzer, wanderte durch verschiedene Adressen und fand 2005 eine endgültige Heimstätte im Technischen Museum (elektrische Geräte) und im Narrenturm (Feuchtpräparate).


Stromunfälle haben oft furchtbare Folgen

Zitat aus: BVAEB Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau

Maßgeblich für die Auswirkungen eines Stromunfalls sind:

die Stromstärke
die Art des Stromes – Wechselstrom oder Gleichstrom,
der Stromweg über den Körper (z. B. Hand – Hand; Hand – Fuß, links, rechts)
die Wirkungsdauer des elektrischen Stroms

Das Ausmaß der Schädigungen auf den Organismus hängt insbesondere von der Stromart und Stromstärke, dem Alter und der Konstitution des Patienten, der Bekleidung und der Dauer der Einwirkung ab. Insbesondere der elektrische Widerstand ist nicht konstant, sondern von vielen Faktoren abhängig, z.B.: trockener/nasser Untergrund, Schutzkleidung (Schuhe mit dicken Sohlen etc.), Wettersituation (Gewitter). Daher gibt es keine „eindeutige Stromverletzung“ bei bestimmten Stromformen und -Stärken.

Zitat Ende

Auf YouTube ist ein schockierendes Video der Präparate von Stromunfällen im Narrenturm zu sehen, das wir aus urheberrechtlichen Gründen nicht einbetten dürfen. Dieser Link führt dorthin:  https://www.youtube.com/watch?v=keZMlhSwl1g (Anmeldung mit Altersangabe erforderlich!)

Verbrennungen, neurologische Schäden wie Muskelkrämpfe oder -lähmungen, die zu Herzrhythmusstörungen, Herz- und Kreislaufstillstand oder Atemlähmung mit tödlichem Ausgang führen. Verletzungen durch Stürze, z.B. von einer Leiter beim Einschrauben einer Glühbirne in die stromführende Fassung, sind oft fatale Begleiterscheinungen.

Dazu kommt, dass ahnungslose Ersthelfer versuchen, den/die vom Stromschlag Getroffene mit bloßen Händen wegzuziehen, mit der Folge, dass die Elektrizität nun auch durch ihren Körper schießt. In jedem Fall ist schnell die Stromquelle auszuschalten (Sicherung ausschalten, Netzstecker ziehen, „Freischaltung“ durch autorisiertes Personal etc.), erst dann darf der/die Verunfallte berührt werden.


Elektro-Todesfalle Haushalt

Leichtsinn, Pfusch, „Mutproben“ und Unkenntnis sind damals wie heute in den meisten Fällen die Ursache schwerer Unfälle. Heute noch häufig in Zeitungsberichten zu finden:

Tödlicher Stromstoß beim Durchschlüpfen unter Stromleitungen, vielfach bei „Abenteuerspielen“ auf abgestellten Eisenbahnwagons.

1931 brachte Professor Jellinek eine kleine Broschüre „Elektroschutz in 132 Bildern“ heraus. Sie sollte anschaulich und plakativ zeigen, wie es zu Stromschlägen kommen kann und wie solche Unfälle vermieden werden können.

(Obwohl diese Broschüre fast zur Gänze aus verschiedenen Internet-Quellen abrufbar ist, dürfen wir sie aus Gründen des Urheberrechts in diesem Blog nicht verwenden, nur in der Schautafel in der Ausstellung).

Vor allem Haushalt und hauswirtschaftliche Berufe erwiesen sich als ein wahres Minenfeld lauernder Stromschläge. Die meisten Stromunfälle passieren nämlich mit Niedrigspannung (bis 1.000 Volt), und im eigenen Heim ist man eher geneigt, unvorsichtig zu sein, als geschulte Starkstromtechniker*innen an deren Arbeitsplatz.

Eine Verbrennung des Grades 2b nach einem Unfall mit einer Hochspannungsleitung
Stefan Reitzner Xy01Verbrennung Grad 2bCC BY-SA 2.0 DE


Meine Meinung

meine meinung

Was Sie unter „Bilder Stromschlag lustig“ im Internet sehen oder in Animationsfilmen vorgeführt bekommen, wo die Skelette im Blitzgewitter zappeln, ist in Wirklichkeit NICHT LUSTIG. Erwachsene wissen das. Kinder nicht immer. Und gerade diese Kinder werden von der – speziell für Kinder und sehr junge Jugendliche eingerichteten! – Website TIKTOK aufgefordert, einander bei „Mutproben“ (Challenges) zu filmen, zu denen auch eine Elektro-Mutprobe gehört. (Die anderen sind u.a.: Seine Kleider am Körper anzünden, einen Esslöffel Salz oder eine Überdosis Tabletten schlucken, sich bis zur Bewusstlosigkeit den Atem abschnüren, Schulkamerad*innen unversehens zu Fall zu bringen, sodass sie sich den Schädel einschlagen (echt: das heißt „Skullcracker-Challenge) und eben auch die Funken-Challenge. Sehen Sie sich das Video an und fragen Sie sich mit mir, was für Leute die Betreiber dieser Plattform sein müssen.


Quellen 

  • Christian Klösch, Der Entzug des Museums, in: Technisches Museum Wien, Naturhistorisches Museum Wien (Hg.)
  • Achtung Strom. Stefan Jellinek und das Elektropathologische Museum, Wien 2013, 40–48.
  • Christian Klösch, Inventarnummer 1938. Provenienzforschung am Technischen Museum Wien, Wien 2015.
  • Ausführliche Bibliografie in: Technisches Museum Wien, Naturhistorisches Museum Wien (Hg.): Achtung Strom
  • Stefan Jellinek und das Elektropathologische Museum, Wien 2013, 211–216.

Die Elektropathologie in Wien – eine Sammlung zur Unfallverhütung, September 2013 Wiener Medizinische Wochenschrift 163(17-18)
DOI:10.1007/s10354-012-0146-4, Autor*innen: Dr. Beatrix Patzak, Eduard Winter ( Naturhistorisches Museum Wien, PaSiN), Reiter Christian (Medical University of Vienna)

Wien Wiki: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Elektropathologische_Sammlung

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Jede Belehrung und Berichtigung, welche in Beziehung auf größere Vervollkommnung und Gemeinnutzmachung dieser Herausgabe beabsichtigt ist, wird mit dem ausgezeichnetsten Danke empfangen.

(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828

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