Wie ein neues Stadtviertel entsteht


Das Kleine Blatt brachte am 11.10.1927 einen zweiseitigen Artikel unter dem Titel „Die sterbende Schmelz. Wie ein neues Stadtviertel entsteht“.

Anlass war der Abriss des ehemaligen Totengräberhäuschen des Schmelzer Friedhofs. An seiner Stelle entstand ein Sozialwohnbau – der (1930 so benannte) Vogelweidhof.

Lesen Sie hier das vollständige Transkript des Artikels – ergänzt durch kurze Anmerkungen und Erläuterungen. Nachzulesen auch auf ANNO – Das Kleine Blatt 11.10.1927, Seite 3 und Seite 4.


Die Schmelz – wie groß war sie doch einmal war und wie klein ist sie seitdem geworden! Vor einem Vierteljahrhundert noch, da dehnte sie sich mächtig in endlosem Hügelzug von der Peripherie, wo die Hänge des Galitzinberges ansteigen, bis zum Gürtel und von den alten Zinskasernen der Hütteldorferstraße bis zu den langgestreckten Häuserzeilen Ottakrings. Sie war ein Stück Prärie, auf der wir unsere Jugendträume erlebten, und als „Räuber und Schanti“ (1) die Gegend unsicher machten. Im Herbst stiegen die Raffler (2) in die blaue Luft und tausend Verwünschungen, die sie beschworen zu „geigeln“ (3), folgten ihnen. Später stampfen wir als junge Männer über denselben Boden, der die ersten Abdrücke unserer Kinderfüße empfangen hatte. Linksum und rechtsum und kehrt euch und endlos fort, im heißen Strahl der Sonne, im nieselnden Oktoberregen, immer fort und fort. So ein doppeltes Antlitz hatte die Schmelz: spielende Kinder und gedrillte, zu Maschinen entwürdigte Rekruten. Ihr drittes Gesicht, das waren die Nächte, in denen lichtscheues Gesindel sie bevölkerte und an so manchen Morgen irgendwo ein Erstochener gefunden wurde. Damals gingen wilde, unheimliche Gerüchte von der Schmelz um und niemand wagte es, sie des Nachts zu überqueren.Aber die Jahre vergingen. Unaufhaltsam, mächtig wuchs die Großstadt und ihre grauen Häuserzeilen umfaßten wie die Fangarme eines Polypen die weite Schmelz, schnitten sie ab von der Verbindung mit dem Wienerwald, rückten vor wie feindliche Heere und belagerten sie, Block um Block vordringend. Jenseits der Schienenstränge der Vorortelinie entstanden neue Straßenzüge und riegelten das Exerzierfeld ab; zur selben Zeit wuchs Ottakring und schob seine Häusermassen bis zur Gablenzgasse vor. Drüben, in Fünfhaus, entstanden neue Gassen und engten die Schmelz ein wie ein steinernes Mieder, das jährlich enger und immer enger geschnürt wurde. Knapp vor dem Kriege (4) wuchs das neue Viertel zwischen dem Vogelweidplatz und der Camillo-Sitte-Gasse empor; gerade als man im schönsten Bauen war, kam die „große Zeit“ (4) und die Schmelz widerhallte von dem Gleichschritt der ausrücken Bataillone. Noch im vorigen Jahre stand in der Schweglerstraße ein unvollendetes Haus, die unverputzten, nackten Ziegelmauern emporreckend. Zwölf Jahre lang war es so gestanden: von 1914 bis 1926. Erst dann wurde es vollendet.
Aber auch während des Krieges ging es der Schmelz ernstlich an den Kragen. Tausend Krampen und Stichschaufeln rissen ihren von den Hufen der Kavalleriepferde festgestampften Boden auf und bald blühten dort flammend rote Feuerbohnen und schlichte Kartoffeln. Kleine, primitive Bretterhütten entstanden, Kleingärten verdrängten das Exerzierfeld und stramme Reihen von Kohlköpfen standen anstatt ausgerichteter Kompanien „Habt acht“.
Und noch einmal wandelte sich das Bild: die furchtbarsten Jahre der Kriegs= und Nachkriegszeit waren vorbei. Langsam begann die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung ihr Aufbauwerk. Und wieder war es die Schmelz, die dabei ihr Gesicht änderte. Draußen, längst der Minciostraße, wurden 1921 die ersten kleinen Gemeindehäuser errichtet, bescheiden noch und nicht ahnen lassend, die Pracht kommender Volkswohnpaläste. Sie waren der zweite Riegel, der die Schmelz westwärts abschloß. Und dann kamen Sportplätze und immer mehr Neubauten, so daß das „k. u. k. Exerzierfeld“ ständig kleiner wurde. Heute dient nur mehr ein mäßig großer Platz dem Exerzieren.;


immerhin groß genug, um das ganze österreichische Bundesheer aufnehmen zu können. Und gefährlich ist es auch nicht mehr über die Schmelz zu gehen; höchstens man stolpert irgendwo über die langgestreckte Massenansammlung von Steinen, die sich hochstaplerisch als „Wege“ bezeichnen. Die Schrebergärten sind erhalten geblieben; ein Schutzhaus und Sportplätze, die Neubauten um den Rohrauerpark, neue Schulen, Fabriken und Wohnhausanlagen haben der alten, großen Schmelz Stück um Stück ihres Bodens entrissen; eine neue Tramwaystrecke, die Neuner=Linie, hat ihr eine verkehrsbelebte Grenze gezogen. Nächstes Jahr werden nun Tennisplätze entstehen und wieder wird ein Stück Schmelz für immer dahingehen.

Die Schmelz stirbt. Aber nur verspießerte Sentimentalität könnte darob weinen. Ist doch der Tod der Schmelz hundertfaches Auferstehen neuen Lebens, Beginn neuer Stadtviertel, Fortschritt und Entwicklung! Denn nur die alte Schmelz, Sinnbild des Kaiserstaates von einst, stirbt; die neue Schmelz der Schrebergärten, Sportplätze, Parkanlagen und Wohnhäuser wächst als ein Stück des neuen und schöneren Wiens, das überall ersteht und gedeiht.
Neu=Fünfhaus
Zwischen Gürtel und Vogelweidplatz blieb die Schmelz lange unbesiegt. Der Friedhof, ein paar leere Lagerplätze und papierl-und scherbenbedeckte Grundstücke brachten bis an den Gürtel, nur durch eine dünne Häuserzeile von ihm getrennt, ein Stück Wildnis heran, das mitten im Häusermeer der Großstadt lag. Der alte Friedhof wirkte inmitten dieser Umgebung doppelt ergreifend; oft warfen wir als Kinder einen Blick leise schauernder Neugier durch das kleine Gitterpförtchen in der Wurzbachgasse, durch das man alte, wehmütig geneigte Grabsteine, von wucherndem Efeu umsponnen, sehen konnte.
Dann kam ein Tag, an dem die alte Friedhofsmauer verschwand und die geheimnisvollen Grabsteine weggeführt wurden.

Und zusammen mit den Monumenten des Todes wichen die weiter südwärts gelegenen Schrebergärten. Wege wurden angelegt, Beete gegraben, noch ein paar Wochen und die ganze Anlage wird fertig sein. Und sie beherrschend erhebt sich ein stolzer Volkswohnpalast vier und fünf Stockwerke übereinander getürmt: das Haus Karl-Marx-Straße 4.
Der Karl=Marx=Hof. (5)
Noch prangt kein Name auf dem neuen Hause; aber man nennt ihn „Karl-Marx-Hof“, dem großen Toten, dem ewig lebendigen Geistesführer zum Gedenken!
Eigenartig in seiner Schönheit ist dieser Bau: ohne Schnörkeln, ohne überflüssige Verzierungen und Türmchen; die wuchtige Masse bildet das wesentliche Merkmal neuzeitlicher Architektur. Arkaden, die beim Eingang zu zwei mächtigen Torbögen wachsen, tragen den gewaltigen Mitteltrakt, die Seitenflügel sind um einen Stock niedriger und umschließen die vorne offenen, nur von einer Schwibbogenreihe abgeschlossenen Gartenhöfe. An der Decke der Arkaden wird noch an Malereien gearbeitet: ein gepanzerter Landsknecht, Zeitgenosse Wallensteins, zieht in den Kampf, ein Reisiger (6) stürzt ein Mädchen in einen Brunnen.

Schön aber ist vor allem die Dachpartie des Haupttraktes. Weiße Stuckstreifen kreuzen einander auf den in ausgreifender Wölbung zum Dache strebenden Mauern. Der Hintergrund ist in lebhafter Farbe gehalten. Irgendwie fühlt man sich an einen venezianischen Palast erinnert. Fast fünfhundert Menschen werden im Karl=Marx=Hof wohnen, eine Zentral Waschküche, eine Konsumfiliale und eine Tuberkulösenberatungsstelle birgt er in seinen Mauern.
Aber der Karl=Marx=Hof ist nicht der einzige Neubau, der den jüngsten Park Wiens begrenzt. Ihm gegenüber erhebt sich ein anderes Gemeindehaus, mit einem mächtigen sechs Stockwerke hohen Eckturm. Und auf der anderen Seite der Löhrgasse dehnt sich der gewaltige Komplex der Fortbildungsschule und eine Gleichrichteranlage der städtischen Elektrizitätswerke.

Und was noch werden wird.
Noch stehen Schrebergärten zwischen dem neuen Park und dem Kinderfreibad bei der Hütteldorferstraße: Aber auch ihre Tage sind gezählt, denn dieser Teil der alten Schmelz soll noch Großes erleben. Einige Häuserbauten sind noch geplant; ein zweiter Badepalast, nur ein bisschen kleiner als das Amalienbad, soll entstehen, um auch den westlichen Bezirken den Genuß eines wirklich modernen Großstadtbades zu verschaffen (7). So ändert sich die Schmelz. Aus einem öden, gemiedenen Platz wird sie zu einem neuen schönen Stadtteil. In einem Jahre wird die innere Schmelz verschwunden sein. Nur die alten Friedhofspappeln werden weiter im Winde rauschen.
W.S.
Baum Nr. 73: Der Oldie im Märzpark
Baum Nr. 73, eine Pyramidenpappel, gepflanzt 1911, scheint der älteste Baum im Märzpark zu sein (*). Er hat noch Kaiser Franz Joseph I. gesehen – zumindest hätte er ihn sehen können – und auch den Schmelzer Friedhof.


(*) Sollten Sie von einem noch älteren Baum im Märzpark Kenntnis haben, teilen Sie uns das bitte unter office@bm15.at mit.
(1) Räuber und Schanti: Kinderspiel, später Räuber und Gendarm. Schantis waren die Gendarmen, die die Räuber finden mussten. „Ursprünglich eine französische Militärtruppe, waren die „Gens d’arms“, die Männer unter Waffen, ein Aufgebot der Landstände. Ein lombardisches Gendarmerieregiment des Königreichs Italien wurde 1815 von der Habsburgermonarchie übernommen, nachdem die Lombardei (wieder) an Österreich gekommen war. Nach der 1848er-Revolution übernahm Kaiser Franz Joseph das lombardische Konzept und ließ die Gendarmerie einrichten. Die „Schanti“ sollten in Österreich (mit Ausnahme der 15 größten Städte) das Bild der ländlichen Sicherheitskräfte prägen.“ (Andrea Maria Dusl im Falter 11/17 vom 15.3.2017)
(2) Raffler: Drachen
(3) Geigeln: Einserseits eine Methode, um einem anderen Kind mit einem schönen Drachen, diesen durch Tricks zu entwenden (abzugeigeln), andererseits der Versuch, einen schönen „Raffler“ durch einen anderen zu überfliegen und diesen sich in den „abzugeigelnden“ verwickeln zu lassen unter dem Schlachtruf „Geigel o‘! Geigel o‘!“ siehe Das Kleine Blatt vom 2.11.1929
(4) Gemeint hier der Erste Weltkrieg (1914-1918)
(5) Karl-Marx-Hof: Der spätere Vogelweidhof wurde anscheinend zwischen 1927 und der Benennung 1930 „Karl-Marx-Hof“ genannt, da das kurze Straßenstück der Hütteldorferstraße bis zum heutigen Märzpark von 1919-1929 Karl-Marx-Straße (davor Aufmarschstraße) hieß. Der heutige Karl-Marx-Hof in Wien Döbling, Heiligenstädter Straße 82-92, wurde 1930 eröffnet und ist mit ungefähr 1050 Metern Länge der längste zusammenhängende Wohnbau der Welt.
(6) Reisiger: Als Reisiger, Reisige, Reißige oder reisiger Knecht wurden im Mittelalter bewaffnete Dienstleute oder berittene Begleitpersonen bezeichnet. Im 16. Jahrhundert bezeichnete man mit diesem Begriff einen (bewaffneten) Reiter im Gegensatz zum Fußvolk. Sie galten nicht als Söldner. Der Begriff leitet sich ab von reisen bzw. Reise, was früher so viel wie „Kriegsfahrt“ bedeutete. Reisige (Reismanni, Reisleute, Reisläufer) waren daher solche, die auf des Herrn Geheiß „Reisen“ (d.h. Feldzüge) unternehmen mussten. (Quelle: Wikipedia)
(7) Der geplante „Badepalast“ wurde erst 1974 in Form des Stadthallenbad (Vogelweidplatz) verwirklicht. Geplant wurde es von Architekt Roland Rainer bereits 1952, jedoch erst 1972-1974 errichtet und am 19. Juni 1974 eröffnet.

Damit genug für heute:
Gehaben Sie sich wohl!
Ihre Brigitte Neichl
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Oder wie es Anton Ziegler 1828 (*) so schön ausgedrückt hat:
Jede Belehrung und Berichtigung, welche in Beziehung auf größere Vervollkommnung und Gemeinnutzmachung dieser Herausgabe beabsichtigt ist, wird mit dem ausgezeichnetsten Danke empfangen.
(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828
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