In dieser Folge von „History & Crime“ geht es um den ehemaligen Schmelzer Friedhof, an dessen Stelle sich heute die Stadthalle und der Märzpark befinden. Um 1900 war der verwilderte Friedhof – besonders nachts – ein unheimlicher Ort, an dem sich allerlei finstere Gestalten herumtrieben.
Barbara Büchner recherchiert unermüdlich in Archiven, durchforstet dutzende Zeitungsartikel und trägt für Sie die spektakulärsten Fälle zusammen, die sich auf dem Gebiet des heutigen 15. Bezirks zugetragen haben oder von Personen handeln, die im heutigen Rudolfsheim-Fünfhaus wohnhaft oder beruflich (oder sonst wie) tätig waren.

Verlassene Friedhöfe sind an und für sich keine behaglichen Orte, aber den schlimmsten Ruf hatte der – an sich idyllische – Schmelzer Friedhof, dessen letzte Überreste heute den Märzpark bilden. „Gehen´S dort ja net durch, net bei Tag und schon gar net bei Nacht!“, warnten die Anrainer*innen einander. Denn zwischen Grabsteinen und Trauerweiden hatte das gefährlichste Gesindel des Alten Wien sein Nest gebaut: die Plattenbrüder von der Schmelz.
„Die nächtlich unbeleuchtete Schmelz, der einsame Friedhof boten allerlei lichtscheuem Gesindel Unterschlupf. Das Treiben dieser „Platten“ nahm derartigen Umfang an, dass die Polizei bei einer nächtlichen Großrazzia im August 1908 mehr als 60 verdächtige Individuen festnahm.“
Wiener Kronenzeitung, 26. Februar 1943.

„Stich eahm d´Augn aus!“
Wer die Wege der Plattenbrüder kreuzte, dem erging es übel. Der Hilfsarbeiter Mathias Haut bezahlte beinahe mit seinem Augenlicht dafür, dass er einer Diebsbande auf dem Schmelzer Friedhof nachspionierte. Er hatte ihren besonderen Zorn auf sich gezogen, da er sie schon einmal bei der Polizei angezeigt hatte. Nun rächten sie sich.
Transkript Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. März 1907
Die Rache der Diebe. Gebunden und geknebelt.
Mehrere Passanten hörten gestern gegen sieben Uhr abends Hilferufe, die aus dem Schmelzer Friedhofe zu kommen schienen. Sie verständigten sofort die Polizeiwachstube auf der Schmelz und mehrere Wachleute durchsuchten den Friedhof. Sie fanden in einer Gräberreihe, ungefähr fünfzig Schritte von der Umfassungsmauer gegen die Schmelz entfernt, einen jungen Burschen liegen, dessen Hände und Füße mit Rebschnüren gefesselt waren. Er trug nur Hemd und Unterhose; seine Kleider lagen unweit der Stelle, wo er gefunden worden war. Der Bursche war bewusstlos und wies an der Stirn eine Stichwunde auf. Neben seinem Kopf lag ein zusammengeballtes Taschentuch, das augenscheinlich als Knebel gedient hatte. Der Bewusstlose wurde in das Sophienspital gebracht, wo er gegen halb 8 Uhr nachts das Bewusstsein wiedererlangte und folgende Angaben machte:
„Stich eahm d‘ Augen aus!“
Er ist der 21jährige Hilfsarbeiter Mathias Haut, Hernals, Frauengasse 9 wohnhaft. Gestern nachmittags beobachtete er einige Burschen, die einer Diebsbande angehören sollen, wie sie über die Mauer des Schmelzer Friedhofes stiegen. Da Haut vermutete, dass sie eventuell Diebsbeute auf dem Friedhof verstecken wollten, schlich er ihnen nach und dabei wurde er ertappt und die Burschen, denen er bereits einmal die Polizei auf den Hals gehetzt hatte, beschlossen, sich zu rächen. Sie entkleideten Haut, fesselten ihn an Händen und Füßen und steckten ihm, damit er nicht schreien könne, sein Taschentuch als Knebel in den Mund. Die Attentäter nahmen ihm dann noch 1 Krone 20 Heller weg und einer von ihnen tauschte seinen alten grünen Plüschhut gegen den neuen schwarzen steifen Hut Haut’s aus. Schon wollten sie sich entfernen, da rief einer: „Stich eahm d‘ Augen aus!“ Und wirklich drehte sich einer der Bande um, ging mit offenem Messer auf den wehrlos auf dem Boden liegenden Haut zu und begann Stiche gegen seine Augen zu führen. Haut wälzte sich so, dass er auf den Bauch zu liegen kam und das Gesicht in das Erdreich presste. Nur ein Stich traf ihn an der Stirne, aber seine Wangen wiesen mehrere Schnittwunden auf. Die Gauner entfernten sich. Nach längerem Bemühen gelang es Haut endlich, den Knebel aus dem Munde zu bringen und Hilferufe auszustoßen, worauf seine Auffindung erfolgte. Die Ausforschung der Täter, die Haut ziemlich genau beschrieben hat, wurde eingeleitet.
Transkript Ende
Erinnerungen an den Schmelzer Friedhof von Alfons Petzold
So romantisch hatte Alfons Petzold diesen alten Friedhof in Erinnerung:
“Ich hatte täglich einen weiten Weg zur Schule zu gehen, der über das ausgedehnte Schmelzer Exerzierfeld an der Rückseite des Altwiener Friedhofs vorbeiführte, dessen frühere Gepflegtheit in eine wahre Urwaldwildnis übergegangen war und der einen Tummelplatz für die umwohnende Jugend abgab, wie man ihn herrlicher nicht träumen konnte.“
Alfons Petzold: Das raue Leben
Dass die Herrlichkeit auch ihre Schattenseiten hatte, musste Petzold freilich selber eingestehen, wenn er von der Angst der abenteuerlustigen Arbeiter- und Bürgerkinder vor den asozialen Jugendlichen auf der Schmelz sprach, die, wenn sie einen erwischten, „ihm die Kleider wegnahmen und alle möglichen Scheußlichkeiten mit ihm anstellten.“ (Das raue Leben).
Aber beginnen wir beim Anfang!
Pestgrube und Cholerafriedhof
Das Gebiet hatte Tradition: Zur Zeit der Pestepidemie im Jahre 1713 wurde dort, wo heute die Kirchstetterngasse verläuft, eine Pestgrube angelegt. Später gab es in der Nähe des Schmelzer Friedhofes noch den Lerchenfelder Friedhof.
Anlässlich des ersten Auftretens der Cholera in Wien im Jahre 1831 legte man dort einen eigenen Friedhof an, der aber Ende der Vierzigerjahre wieder aufgelassen wurde. (Zum Thema siehe auch den Vortrag „Schnaps hilft gegen Cholera“ von Mag. Thomas Reithmayer)
Die fünf josephinischen Friedhöfe in Wien
Bis zur Regierungszeit Joseph´ II. hatten die Wiener*innen ihre Toten im Umfeld der Kirchen begraben, teils aus Platzmangel auch unterhalb dieser – siehe die heutige Michaelergruft im Stadtzentrum -, was aber mit dem zunehmenden Wachstum der Stadt immer unhygienischer wurde.
In der Hofburg beklagte man sich zusehends über den strengen Geruch, der von diesen innerstädtischen Gottesackern ins Regierungszentrum wehte. Der immer tatkräftige und reformfreudige Joseph II. hatte auch schnell eine Lösung parat: Er ordnete an, die kommunalen Friedhöfe außerhalb der Stadt, jenseits des Linienwalls, anzulegen.
Hinaus aus der Stadt mit den Toten, hinein ins Grüne, wo man auch tiefere Gräber anlegen konnte, wo frischer Wind und Blumenduft jedes Restchen Gestank verwehten und ein Friedhof zu einem idyllischen kleinen Park wurde.
Den Wiener*innen wurde anfangs wohl angst und bange bei diesen neuen Plänen seiner Majestät, hatte Joseph seinen Untertanen doch auch schon den praktischen, mehrfach verwendbaren Klappsarg aufzwingen wollen – eine Variante des alten Pestsarges, aus dem die Leiche würdelos in die Grube plumpste.
Was bei den Wiener*innen – denen ihre „schöne Leich“ heilig war – beinahe zu einem Volksaufstand geführt hätte, sodass der Kaiser grollend nachgab. Die neuen Friedhöfe fanden mehr Anklang bei der Bevölkerung.

Am 4. November 1930 berichtet das Neuigkeits-Welt-Blatt über die josephinischen Friedhöfe:

Transkript
Bis zur Zeit Kaiser Josephs II. gab es in Wien sowohl in der „Stadt“ wie in den Vorstädten zahlreiche Friedhöfe um die Kirche herum. Viele, und zwar gerade die vornehmen Wiener, ließen sich in jenen fernen Tagen auch in Kirchengrüften bestatten, z.b. in den Katakomben von St. Stephan, in der Schottengruft, in der Gruft der Michaelskirche. Kaiser Josef, aber schloß kurz nach Regierungsantritt aus sanitären Gründen diese Friedhöfe und verbot gleichzeitig ausnahmslos die Beerdigung in Gotteshäusern und schuf für die Bedürfnisse der Stadt Wien und ihre Vorstädte fünf Friedhöfe außerhalb der Linien:
Den allgemeinen Währinger Friedhof (nächst der Nußdorfer Linie), den Schmelzer, den Hundsturmer, den Matzleinsdorfer und den St. Marxer Friedhof.
Transkript Ende
Sie wurden ab 1784 angelegt und waren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bereits alle wieder aufgelassen worden, mit Ausnahme des St. Marxer Friedhofs, der zwar nicht mehr beschickt wird, aber als Touristenattraktion und Beispiel historischer Begräbniskultur heute noch geöffnet ist.
Der erste dieser vier Friedhöfe, der aufgelöst wurde, war der Schmelzer Friedhof. Er stand dem Verkehr und der Ausdehnung der Stadt besonders hinderlich entgegen, daher wurde er schon lang vor dem Krieg abgeräumt.
Alle Toten in ihm wurden enterdigt, breite, neue Straßenzüge wurden über sein Terrain geführt und nur ein kleiner (östlicher) Teil mit der immer mehr verfallenden Friedhofskapelle blieb unverbaut. Hier stellte man dann eine kleine Allee von Grabsteinen aus, die aber auch immer mehr verwitterten.
Die übrigen Friedhofsreste verwilderten und waren bald beliebte Schlupfwinkel nicht nur von Obdachlosen, sondern auch von gefährlichen Verbrechern wie den „Plattenbrüdern“. Daher beschloss nach dem Ersten Weltkrieg die Wiener Gemeindevertretung, diese Friedhöfe in öffentliche Parks umzuwandeln, in diesen aber die schönsten Grabsteine, auch Grabsteine bedeutender Persönlichkeiten, in besonderen ,,Denkmalhainen« aufzustellen.

Im 15. Bezirk entstand so der Märzpark. Auf dem Boden der Schmelz war es während der zweiten Welle der Kämpfe, im Oktober 1848, zwischen den revolutionären National- und Mobilgarden und den von Breitensee heranrückenden Truppen der Brigade Chizola zu schweren Kämpfen gekommen, bei denen der Schmelzer Friedhof arg verwüstet wurde.
Er wurde ab 1874 nicht mehr beschickt und 1913 geschleift. Der Park, der seine Stelle einnahm, wurde Märzpark benannt nach den 35 Gefallenen der Wiener Märzrevolution 1848, die dort eine temporäre Ruhestätte fanden. Seit 1888 liegen ihre Gebeine auf dem Zentralfriedhof.

Die Revolution von 1848/1849 in Österreich war Bestandteil der bürgerlich-demokratisch motivierten Revolutionen von 1848/1849, die einen großen Teil Mitteleuropas erfassten. (Bildquelle: Wien Geschichte Wiki)
In der Wiener Kronenzeitung, 26. Februar 1943 erinnert sich Ferdinand Edmund Schmidt, offenbar ein Leserreporter, an die Geschichte des Friedhofs:
Transkript (Auszug) Wiener Kronenzeitung, 26. Februar 1943
Zu jenen fünf Friedhöfen, die auf Befehl Kaiser Josefs II. im Jahre 1782 außerhalb Wiens angelegt worden waren, während gleichzeitig alle Friedhöfe innerhalb Wiens geschlossen wurden, zählte auch der Schmelzer Friedhof, der den alten Friedhof von St. Ulrich am Neubau ersetzen sollte. Viele bedeutende Persönlichkeiten fanden am Schmelzer Friedhof ihre Ruhestätte. Die vielen reichen Seidenfabrikanten vom „Brillantengrund“ hatten auf dem Schmelzer Friedhof ihre Grüfte und so wies dieser Friedhof sehr viele kunstvolle Grabdenkmäler auf.
Ein Friedhof wird zur Wüstenei
Obwohl der Exerzierplatz bis zum Schmelzer Friedhof reichte, war die Gegend umher noch recht ländlich. Im Jahre 1884 z. B. hatte die neue Goldschlagstraße erst 19 Hausnummern. (Anm.d. Red: Auf Nr. 19 wohnte damals der berüchtigte Frauenmörder Hugo Schenk). Nach und nach entstanden neue Zinshäuser; und um den Schmelzer Friedhof, der 1874 geschlossen wurde, kümmerte sich niemand mehr. So wurde er im Laufe der Jahrzehnte zu einer Wildnis, in der man durch meterhohes Gras, Dorn- hecken, längst eingesunkene Gräber schreiten konnte, falls es einem gelang, vom bärbeißigen alten Friedhofsaufseher, der dort im kleinen ehemaligen Totengräberhäuschen wohnte, die Erlaubnis zu erhalten. Die nächtlich unbeleuchtete Schmelz, der einsame Friedhof boten allerlei lichtscheuem Gesindel Unterschlupf. Das Treiben dieser „Platten“ nahm derartigen Umfang an, dass die Polizei bei einer nächtlichen Großrazzia im August 1908 mehr als 60 verdächtige Individuen festnahm. Im Jahre 1911 begann man mit der Verbauung eines kleinen Teiles der Schmelz und so entstand „Neufünfbaus“ mit seinen Straßen und Gassen, deren Namen der Nibelungensage entnommen sind. 1913 wurde auch mit der Abräumung des Schmelzer Friedhofes begonnen, die sich aber infolge des Weltkrieges verzögerte. Im Jahre 1918 wurden dort Parzellen für Schrebergärten geschaffen, aus denen die heutige Kleingartensiedlung hervorgegangen ist. Vom alten Friedhof ist heute nur die Kastanienallee erhalten geblieben, weiters einige Thujen und Friedhofsbäume, die nun den „Märzpark“ zieren. Ferdinand Edmund Schmidt.
Transkript Ende

Max Winter, der Politiker mit dem Elendsfrack
Nun wäre es recht einfach zu sagen, diese Diebe, Plattenbrüder, Bettler und Obdachlosen, die in der unheimlichen Wildnis des Schmelzer Friedhofs wie anderswo auch Unterschlupf fanden, seien eben „ein Gsindel“ gewesen, das nichts Besseres verdient hätte als „einspirrn und dunsten lassen“.
Ohne jetzt in schmalzige Romantik von edlen Räubern verfallen zu wollen: Diese Menschen hatten ihre persönlichen Lebenshintergründe. Die Wohnsituation, überhaupt die soziale Situation von über 90 Prozent der damaligen Wiener Bevölkerung war katastrophal – siehe den Beitrag von Brigitte Neichl.
Wie sollten in solchen Elendshöhlen gesunde, anständige und tüchtige Menschen heranwachsen? Kein Wunder, dass vor allem die jungen Leute zu allem, aber auch wirklich allem entschlossen waren, um sich das gute Leben leisten zu können, das ihnen aus den Häusern der Reichen überall höhnisch entgegengrinste!

Keiner hat diesen Hintergründen so unerschrocken nachgeforscht wie der Reporter und spätere Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“ Max Winter, der sich seinen „Elendsfrack“ überzog und in die Rollen der Unterprivilegierten schlüpfte, deren Leben er in über tausend Reportagen schilderte.
Mit Max Winter werden wir uns in der nächsten Folge von „History & Crime“ befassen; sein Werk ist eine geradezu unerschöpfliche Quelle an Informationen über die Zeit zwischen den Jahrhundertwende und den 1920er-Jahren – und damit natürlich auch über die Kriminalität, das Polizeiwesen und die Justiz dieser Epoche.
Was er – als „Kanalstrotter“ verkleidet – auf der untersten Stufe des Elends, erlebte, ist Thema der September-Folge: „Die im Dunkeln sieht man nicht …“
Quellen:
Liebe Leserin, lieber Leser!
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Dann schreiben Sie doch einfach einen Kommentar. Nützliche Inhalte mit Quellenangabe bauen wir – mit Verweis auf Ihren Kommentar – gerne noch in den Text ein. Alternativ können Sie uns auch ein Mail an office@bm15.at schicken!
Oder wie es Anton Ziegler 1828 (*) so schön ausgedrückt hat:
Jede Belehrung und Berichtigung, welche in Beziehung auf größere Vervollkommnung und Gemeinnutzmachung dieser Herausgabe beabsichtigt ist, wird mit dem ausgezeichnetsten Danke empfangen.
(*) Wiens nächste Umgebungen an den Linien, herausgegeben von Anton Ziegler und Carl Graf Vasquez, Wien 1827-1828
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